Vor fünf Tagen sprach ich mit einer Freundin über die aktuelle Corona-Zeit. Es war ein Privatgespräch am Telefon. Ich wollte mich nach ihrem Befinden erkundigen und ihr erzählen, wie es uns momentan geht. Doch es kam ganz anders, als beabsichtigt. Es war, als hätte ich in ein Wespennest gestochen. Auf die einfache Frage, wie es ihr und ihrer Familie geht, begann sie sich plötzlich fürchterlich aufzuregen. Von diesem Gespräch und weiteren Beobachtungen möchte ich dir erzählen und dir den Raum bieten zu reflektieren, welche Gespräche du aktuell erlebst und worauf du deinen Fokus legen möchtest.
Was sie mir im Gespräch sagte:
„Wir sind gesund, aber Gutes gibt es nichts zu erzählen.“
„Wir sind finanziell nicht betroffen, aber wir hocken auch nur zu Hause und können nichts machen.“
„Am Wochenende können wir in den Schrebergarten. Aber die Stadt ist ja wie ausgestorben. Sterbenslangweilig. Man kann nichts machen.“
„Die Kinder (7 und 14) kommen zu Hause zurecht, aber es ist schon eine Sauerei, dass die Schulen geschlossen haben.“
„Die Kinder erledigen ihre Hausaufgaben sogar allein und kommen mich nachmittags von der Arbeit abholen. Ist nur ein kurzer Fußweg. Aber man weiß ja auch nicht, wie gut sie sich zu Hause allein vertragen.“
„Ich bin stolz auf meine Tochter (14)! Sie übernimmt einige Aufgaben im Haushalt und kocht sogar Mittagessen für sich und ihren Bruder. Das macht sie sogar echt gerne. Aber was soll sie denn jetzt lernen, wenn sie nicht zur Schule geht?“
„Wir führen jeden Abend eine Familienkonferenz, das führt uns als Familie zusammen. Aber es ist doch eine Schweinerei, was jetzt von den Leuten abverlangt wird.“
„Unsere sozialen Kontakte leiden nicht, aber wie soll denn das alles weiter gehen?“
„Die Konfirmation unserer Tochter ist abgesagt. Aus Sicherheitsgründen. Aber was soll denn bitte diese Übertreibung? Es ist doch nur eine einfache Grippe.“
Wenn du jetzt denkst, dass ich übertreibe, irrst du dich leider. Das Gespräch verlief genauso, wie ich es in Kurzform zitiere.
Was fällt dir auf?
Mir fiel im Gespräch sofort auf, dass sie viel Gutes zu berichten hatte. Doch das merkte sie nicht, denn jedes Mal kam ein negativer Nachtrag. Alles Positive relativierte sie mit etwas Negativem.
Es geht noch weiter… Im Verlauf versuchte ich ihr zu zeigen, dass sie gerade tolle Dinge zu berichten hat. Alle gesund. Starke Familien-Bande. Stolz auf die Kinder. Keine Bedrohung des Arbeitsplatzes. Keine finanziellen Probleme. Der Wald vor der Haustür und die Möglichkeit, im Garten zu werkeln. Mein Ziel war es ihr zu zeigen, dass es ihre Familie hätte viel schlimmer treffen können.
Leider erreichte ich genau das Gegenteil. Sie beschwerte sich immer mehr. Wurde immer wütender. Ich merkte, dass ihre Stimme schrill klang und sie zwischendurch hysterisch wirkte. Ein blinder mit Krückstock hätte erkannt, dass sie sich reinsteigert. Aber das sagte ich lieber nicht.
Irgendwann wurde ich immer ärgerlicher. Mich nervte ihre Art. Solche Gespräche bezeichne ich gerne als „Motzen auf hohem Niveau“. Klingt das fies oder fühlst du dich manchmal auch so? Im Gespräch erinnerte ich mich an eines meiner persönlichen Mantras:
„95% der Gesamtbevölkerung würden jetzt gerne mit mir tauschen.“
Das sage ich zu mir, wenn ich mich beim Motzen auf hohem Niveau erwische. Aber ihr sagte ich es lieber nicht. Du kannst dir sicher vorstellen, was passiert wäre, hätte ich es getan.
Wenn du jetzt glaubst, dieses Telefonat ist eine Ausnahme, muss ich dich leider korrigieren. Es ist keine Ausnahme. Und ich bin mir sicher, dass du ähnliche Gespräche selbst erlebt hast. Vielleicht erst vor kurzem. Wie fühlst du dich in solchen Gesprächen? Kommt es dir vielleicht von Zeit zu Zeit wie eine Verschwendung deiner Lebenszeit vor, wenn du anderer Menschen Motz-Tirade anhören musst?
Ich sage nicht damit, dass wir nicht alle ab und zu Dampf ablassen müssen. Das sollten wir sogar! Es gehört zur Psychohygiene und ist wichtig für unseres emotional-kognitives Gleichgewichts. Wenn du dich also mal auskotzen musst, ist das dein gutes Recht. Und du solltest es auch regelmäßig machen. Doch ausgerechnet in letzter Zeit fällt mir auf, dass Motz-Tiraden zum Alltag vieler werden.
Ich sehe es so: Es gibt eine gewisse Grenze, ab der Motzen keine Psychohygiene mehr ist, sondern ein Sich-Reinsteigern. Das ist der Moment, in dem Menschen von einem dienlichen Weg abkommen.
Wo liegt der Fokus?
Das Gespräch mit meiner Freundin kippte in eine Diskussion über Politik, Gesundheitswesen und Bildung. Ich vermute, dass auch du ähnlichen Aussagen kennst:
„Wir werden doch nur verarscht und ausgebeutet! Die Politiker haben keine Ahnung, was sie tun.“
„Coronavirus ist nichts anderes, als eine einfache Grippe.“
„Es ist völlig übertrieben, dass die Schulen geschlossen sind. Das zerstört unser Bildungssystem. Und es macht doch gar keinen Sinn. Wir gehen ja auch noch arbeiten.“
„Wir werden unserer Grundrechte beraubt!“
„Das ist nur eine Vertuschung der Wirtschaftskrise!“
„Die Menschen werden nach Corona traumatisiert sein!“
Ich könnte weiter schreiben. Ich lasse es lieber… Du verstehst garantiert, was ich meine. Wie würdest du die Frage beantworten, wo da der Fokus liegt?
Genau dieses Verhalten tritt in Zeiten der Anspannung, der Veränderung und der Herausforderung vermehrt auf. Ob es jetzt Corona ist oder die drohende Wirtschaftskrise. Ob es vor Jahren die Einführung des Zentralabiturs war oder ob es jetzt die Debatte um Impfpflicht ist.
Vor allem die Social Media sind voll davon. Verschwörungstheorien. Anschuldigungen. Klagen. Täglich begegnen mir auf Facebook, Twitter und Youtube ausführliche Texte über Missstände der Corona-Zeit. Ich beobachte hitzige, wütende und fast schon aggressive Diskussionen. Menschen beschimpfen sich, machen einander Vorwürfe und belehren sich gegenseitig. Jeder will es besser wissen. Jeder will Recht behalten. Und jeder will sich mit seiner Meinung durchsetzen.
Jeder Fokus hat seine Folgen
Psychologisch betrachtet gehört es zum menschlichen Profil. Es beschreibt unsere Schattenseite. Damit meine ich, dass es psychologisch betrachtet einfacher ist…
- einen schuldigen zu suchen,
- Fehler anderer zu analysieren,
- Verhalten anderer zu bewerten oder
- sich über andere ein Urteil zu bilden.
Mit „einfacher“ meine ich nicht, dass es besser oder hilfreicher ist.
Es gibt Persönlichkeiten, die dazu neigen den Fokus auf das Negativen zu legen. Unbewusst und manchmal auch bewusst. Diese Persönlichkeiten brauchen einen Verantwortlichen (oder Sündenbock) und sie beschäftigen sich ausführlich mit Schuld. Sie wollen quasi die Risiken kennen und die Quelle des Schlechten finden. Sie vertiefen sich in kritische Thema und verlieren sich manchmal in Details. Dabei verlieren sie schon mal den Überblick über das Wesentliche. Sie neigen dazu, sich Verschwörungstheorien anzuschließen, und übernehmen gerne eine aufklärende Rolle. Das sind oft diejenigen von uns, die felsenfest behaupten „das System durchschaut“ zu haben. Ihre Argumente sind scheinbar grenzenlos.
Doch leider ist das ein gefährlicher Fokus. Ausgerechnet diese Menschen sind oft unachtsam. Sie neigen dazu, sich schnell angegriffen zu fühlen. Genauso neigen sie zu schnelleren Bewertungen und Interpretationen. Unachtsam sind sie vor allem mit sich selbst und mit dem, was in ihrer unmittelbaren Umgebung geschieht. Sie haben oft einen schlechten Zugang zu ihren Bedürfnissen und sind sich ihrer persönlichen Stärken nicht bewusst. Ihre persönlichen Motive und Ziele sind oft negativ formuliert. Anstelle zu wissen, was sie wollen, fokussieren sie sich darauf, was sie nicht mehr wollen. Es sind Menschen, die in eigenen Denk- und Verhaltensmustern gefangen sind und für die es beinahe existenziell bedrohlich ist alternative Wege zu beschreiten.
Diese Persönlichkeiten tarnen sich gerne als „Realisten“ und diejenigen, die „gerne vorbereitet sind“. Das führt dazu, dass sie die eigene Verantwortung nicht richtig erkennen und diese nicht dienlich nutzen. Stattdessen fallen sie oft in die beobachtende Opferrolle und sorgen durch eigene Gedanken und Verhaltensweisen dafür, dass sie sich selbst noch macht- und hilfloser fühlen.
Klinisch betrachtet, haben diese Menschen ein höheres Risiko, an psychischen Erkrankungen zu leiden. Angsterkrankungen, Zwangsstörungen, Depression und Burn-Out gehören zu den Risiken.
Es ist Zeit für einen Weckruf!
Nun möchte ich nicht über diese Menschen schimpfen. Sie sind, wie sie sind. Und auch diese Menschen können sich ändern, wenn sie es möchten.
Alles, was du bis jetzt gelesen hast, sollte dich aufmerksam machen. Denn jetzt geht es um dich. Nicht um die Leute auf Facebook, nicht die Twitterer und auch nicht um deine Nachbarn.
Wir können uns noch stundenlang über andere Menschen unterhalten.
Aber am Ende des Tages ist nur eines wichtig:
Was machst du daraus?
Vor allem, wenn du dich oder ein paar deiner Mitmenschen wieder erkannt hast, wird es Zeit inne zuhalten.
Welche Gespräche möchtest du (jetzt) führen?
Welche Gespräche hast du in den letzten Wochen geführt? Waren Gespräche dabei, wie ich es mit meiner Freundin geführt habe? Welchen Part hast du dabei eingenommen und wie ging es dir dabei?
Vielleicht merkst du, dass du ähnliche Szenarien erlebt hast. Und womöglich hat es dich aufgewühlt, dich verärgert, verunsichert oder dich unnötig Zeit gekostet. Vielleicht denkst du gerade an bestimmte Menschen oder bestimmte Situationen. Es ist gut, wenn es so ist. Denn jetzt gerade reflektierst du intensiv über deine Erfahrungen.
Bitte nimm dir jetzt einige Minuten Zeit und überlege dir:
- Welche Gespräche möchte ich (in nächster Zeit) führen?
Es kann sein, dass es Themen gibt, bei denen du dich lieber raushalten willst. Welche sind es? Was zieht dich aktuell runter und womit willst du dich gerade nicht intensiv beschäftigen? Was ist jetzt gar nicht entscheidend?
Vielleicht brennt dir etwas anderes auf der Seele. Mit wem könntest du reden? So, dass es ein angenehmes oder zumindest hilfreiches Gespräch wird…
Wie kannst du Grenzen setzen, wenn ein Gespräch in eine nicht dienliche Richtung kippt? So, dass du die andere Person nicht verletzt und ihr ihre Meinung lässt, aber bei dir bleibst…
Worauf legst du deinen Fokus?
Vor allem auf den Social Media kann man den eigenen Fokus wunderbar schulen. Facebook, Instagram und Twitter sind geniale Plattformen, um die eigene Fähigkeit zur Abgrenzung zu stärken.
Welche Feeds und welche Diskussionen solltest du lieber nicht folgen? Welche Themen werden auf der Meta-Ebene ausdiskutiert? Und wo geht es nur darum, wer seine Meinung über die Meinung anderer stellt?
Rechthaberei ist äußerst unsozial und unsexy, kann ich dir sagen.
Wo beobachtest du lieber still das Geschehen und fokussierst dich weiterhin auf deine persönlichen Ziele? Auf meinen Profilen geht es z.B. sehr still zu. Ich halte mich zurück. Bewusst.
Über welche Themen wurde genug gesagt? Ich denke vor allem an Corona und wie sich hier einige Themen täglich überschlagen… Hier kann ich dir den Artikel mit 6 Tipps zum besseren Umgang mit Corona empfehlen.
Was ist gerade in deinem Leben wichtig? In Bezug auf deine Gesundheit, dein Wohlbefinden, deine Werte und persönlichen Ziele? Welche Ressourcen kannst du nutzen?
Frage dich vor allem, welche Stärken du als Mensch hast, die du in der aktuellen Zeit aktiv einsetzen kannst. Suche bitte nicht nach „Superman“-Fähigkeiten. Vielleicht bist du wirklich gut im Zuhören oder kannst besonders gut Trost spenden, findest liebevolle Worte und vielleicht ist es einfach dein Humor, das deine Stärke ist! Wie, wo und wofür kannst du jetzt deine Stärken ausspielen?
Und zuletzt möchte ich dich bitten die anderen einfach mal erzählen zu lassen. Bilde dir deine eigene Meinung, aber lass den anderen die ihre.
Wie Dalai Lama sagte:
„Denke daran, dass Schweigen manchmal die beste Antwort ist.“
Danke für deine Aufmerksamkeit!
Tatjana
Du siehst in diesem Artikel Bilder von @Leonor_Oom