
EINE WAHRE GESCHICHTE,
DIE MICH WACHRÜTTELTE
Ich erzähle dir nun von der Geschichte, die meine Sichtweise auf das Psychologiestudium und auf den therapeutischen Beruf veränderte.
Die Geschichte fängt 2008 an, als ich mein Studium an der Universität Marburg startete. Gleich im ersten Semester belegte ich ein Nebenfach, das große Beliebtheit unter Psychologie- und Medizinstudenten genoss.
In diesem Nebenfach wurden psychische und psychiatrische Störungsbilder des Kindes- und Jugendalters behandelt. Höhepunkt der Vorlesung waren echte Fallbeispiele. Diese Fälle wurden aber nicht theoretisch vorgestellt, sondern zu jeder Vorlesung wurde ein Kind bzw. ein Jugendlicher geladen.
Stell dir das so vor: In einem riesigen Saal sitzen um die 100 Studenten, vorne steht ein*e Dozent*in und ein noch ganz junger Mensch kommt dazu. Jedes Kind bzw. jeder Jugendliche erzählt etwas über sein Störungsbild und die Therapie. Und die Studenten dürfen all ihre Fragen stellen.
Diese Vorlesung war ungewöhnlich und deswegen immer gerammelt voll.
Du musst wissen, ein Psychologiestudium ist eher theorielastig. Und das fand ich von Anfang an ziemlich öde. In jeder anderen Vorlesung wurden ständig nur Studien behandelt und irgendwelche Theorien vorgestellt. Und dazwischen gab es massenweise Statistik. Und ich bin ehrlich nicht der Typ, der so viel trockenes Wissen ohne klaren Praxisbezug mag.
Schon bald war diese Vorlesung mein Highlight! Hier konnte ich aus der Praxis lernen und meine analytischen und therapeutischen Fähigkeiten an einem echten Menschen trainieren. Klingt erstmal gut, oder?
Die Geschichte macht einen Zeitsprung ins Jahr 2016. Damals hatte ich schon mein Diplom in der Tasche und arbeitete an einer psychosomatischen Klinik.

EIN ERSCHRECKENDER ZUFALL
Eines Tages bekam ich eine Patientin mit schwerer Depression. In der Therapie ging es unter anderem um ihre private Situation. Dabei kam zur Sprache, dass ihr älterer Sohn auch unter psychischen Problemen litt. Es belastete sie sehr, dass es ihrem Sohn so schlecht ging. An ihr nagten Hilflosigkeit, Schuldgefühle und Verzweiflung. Sie hatte das Gefühl als Mutter zu versagen. Dabei tat sie ihr bestes, um ihrem Kind zu helfen.
In einer unserer Sitzungen erzählte sie mir, wie es dazu kam, dass ihr Sohn psychisch so „abgebaut“ hat. Long Story short – der Junge wurde zur Therapie an einer Klinik für Kinder und Jugendliche aufgenommen.
Eben diese Klinik kooperierte mit der Universität Marburg und schickte junge Patienten in die klinische Vorlesung, die ich 2008 besucht hatte.
Auch der Sohn meiner Patientin wurde in eine der Vorlesungen vorgeladen und musste dort über seine Gedanken, Gefühle und die Therapie sprechen. Ich war erstaunt über diesen Zufall und teilte meiner Patientin mit, dass ich genau wusste, von welcher Vorlesung sie sprach. Daraufhin erzählte mir meine Patientin erschreckende Details.
Es sei keine schriftliche Einwilligung der Eltern eingeholt worden, dass der Junge in diese Vorlesung musste. Die Eltern seien nicht einmal hinreichend informiert worden, wann ihr Sohn in dieser Vorlesung war. Und dabei war er damals minderjährig. Zudem sei er therapeutisch nicht auf diese Situation vorbereitet worden, wie er später seinen Eltern erzählte.
Der „Auftritt“ in dieser Vorlesung führte bei dem Jungen zu einer Erschwerung seiner Problematik. Er hatte sich ausgeliefert und vorgeführt gefühlt. Wie ein wehrloses Testobjekt.
Seine Eltern fühlten sich machtlos. Sie wussten nicht, was sie unternehmen konnten, um ihrem Sohn zu helfen. Wussten nicht, wer zur Verantwortung gezogen werden konnte und warum all das auf diese Weise geschehen war.
Jetzt fragst du dich vielleicht wie es sein kann, dass ein minderjähriges Kind in eine Vorlesung als Fallbeispiel für psychische Probleme muss. Und zwar ohne, dass die Eltern darüber Bescheid wissen und schriftlich eingewilligt haben. Das fragte ich mich auch.

DER WENDEPUNKT
Als meine Patientin mir die Geschichte ihres Sohnes erzählte, war ich zutiefst erschrocken. All die Jahre ging ich davon aus, dass die Eltern, die Kinder und Jugendlichen ihr Einverständnis geben mussten und gut auf so eine Ausnahmesituation vorbereitet wurden.
Ich fing an eigene Untersuchungen anzustellen, da der Fall keine 10 Jahre alt war. Aber ich landete nur in Sackgassen. Keiner wollte mir Auskunft erteilen. Weder an der Uni, noch an dieser Klinik. Ich nutzte alle meine Kontakte, doch ohne Erfolg.
Keiner konnte oder wollte Tipps geben, was die Eltern des Jungen machen konnten. Es bestand nur die Möglichkeit Aktenansicht anzufordern, was ich meiner Patientin riet. Doch leider blieb auch das erfolglos.
Mag sein, dass diese Geschichte ein unglücklicher Ausnahmefall war. Ich möchte niemandem, auch nicht der Universität oder der Klinik, etwas Böses unterstellen. Aber diese Geschichte lies mich nicht mehr los.
Ich war so enttäuscht und entrüstet, dass sich meine Haltung zum Berufsstand der Psychologen und Psychotherapeuten veränderte.
Und ich war echt beschämt. Denn (und das gab ich vor meiner Patientin zu) damals, als ich Teil dieser Vorlesung war, verschwendete ich keinen Gedanken daran, wie sich wohl die Kinder und Jugendlichen in der Situation fühlten. Ich war zu „sensationsgeil“. Und ich fürchte, das waren all die anderen Studenten auch.
Meine Patientin öffnete mir die Augen und lies mich über diese Vorlesung aus einem ganz neuen Blickwinkel reflektieren.
Im Nachhinein kam mir das Bild von Aasgeiern. Sie schauen einem schwachen Tier in Not zu und starten in einem günstigen Moment ihren Angriff.
Seitdem bin ich vorsichtiger, achtsamer und kritischer geworden, was ambulante und stationäre Psychotherapie angeht. Denn leider bin ich in den Folgejahren noch vielen weiteren erschreckenden Geschichten begegnet.
Und schließlich entschloss ich mich meinen Blog zu starten und im Rahmen meiner Möglichkeiten Menschen über Psychotherapie aufzuklären und ihnen zu helfen ihre Therapie selbstbestimmter mitzugestalten.