Seit nun über 12 Jahren bin ich als Psychologin tätig und beobachte ein wiederkehrendes Muster bei psychisch belasteten Menschen: Ihre Angehörigen, ja selbst geliebte Familienmitglieder, Partnerinnen und Partner oder die engsten und vertrautesten Freundinnen und Freunde wissen oft nur wenig über den wahren Leidenszustand der Betroffenen. Manchmal wissen sie sogar so gut wie gar nichts. Manchmal haben sie eine Idee, eine Ahnung oder Vermutung, aber das Ausmaß der Probleme ist ihnen oft nicht bewusst. Erst in gemeinsamen Gesprächen und im Laufe der psychologischen Begleitung offenbaren sich das Ausmaß und die Tragweite der psychischen Belastungen, unter denen die Betroffenen tatsächlich leiden. Für viele Angehörige fühlt sich das Ankommen in der Realität der Betroffenen so an, wie das böse Erwachen, das oft mit Schuldgefühlen, Überforderung und Traurigkeit einhergeht.
Fühlst du dich seit einiger Zeit belastet und hast du bestimmte psychische Probleme, die dir das Leben erschweren? Dann lass uns gemeinsam der Frage nachgehen, warum es dir, so wie sehr vielen psychisch belastete Menschen, schwer fällt (frühzeitig) mit anderen in einem vertrauensvollen Gespräch über deine Probleme zu sprechen. Ich werde dir einige Gründe zeigen, warum psychisch belastete Menschen nicht über ihren Kummer, ihre Sorgen oder Ängste mit anderen sprechen. Wenn du darüber hinaus andere Gründe kennst, vielleicht aus deiner eigenen Erfahrung, freue ich mich, wenn du mir darüber im Kommentarfeld schreibst.
Inhaltsverzeichnis
Du weißt selbst noch gar nicht, dass du bereits mit psychischen Belastungen zu kämpfen hast
Psychisch belastete Menschen, wissen oft lange Zeit gar nicht, dass sie tatsächlich belastet sind. Sie merken vielleicht gewisse Veränderungen in ihren Gefühlen, Gedanken, im Verhalten oder sogar am körperlichen Befinden. Aber was genau passiert und warum es passiert, ist vielen unklar. Psychische Belastungen schleichen sich oft über diffuse und subtile Anzeichen ein und werden im Laufe der Zeit immer größer. Sie sind wie eine verschleppte und nicht ernst genommene Verkühlung, die irgendwann so ausartet, dass daraus eine ernstzunehmende Lungenentzündung wird.
Bei psychischen Problemen ist es häufig so, dass sich Betroffene einreden, es sei nur eine schlechte Phase, sie hätten gerade besonders viel Stress, es stünde viel an oder sie seien einfach urlaubsreif.
Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, zunehmende angstbesetzte Gedanken oder Sorgen, zunehmender Konsum von Tabak oder Alkohol, beginnender sozialer Rückzug oder das andauernde Überschreiten eigener Belastungsgrenzen werden „abgetan“ als eben eine „schlechte Phase“.
Das Bewusstsein darüber, wann wir es noch mit einer schlechten Phase zu tun haben und wann wir bereits von psychischen Belastungen sprechen müssen, ist gering. Wir haben immernoch die fälschliche Vorstellung von „gesund oder gestört sein“, einer Art Schwarz-weiß-Denken, die all die individuellen Grautöne nicht berücksichtigt. Dadurch werden psychische Belastungen verschleppt, weil sie nicht erkannt und dadurch nicht ernst genommen werden. Letztlich führt genau das dazu, dass Betroffene nicht frühzeitig über ihre Belastungen mit anderen Menschen sprechen.
Wie ernst nimmst du dich mit dem, was du erlebst, denkst und fühlst? Wie ernst nimmst du deinen Zustand, dein Wohlbefinden oder deine Zufriedenheit mit dir, deinem Leben und deiner Gesundheit? Neigst du dazu, Belastungen als „schlechte Phase“ abzutun? Vermeidest du vielleicht die Auseinandersetzung mit dem Thema psychische Belastungen, weil du stark, besonders verlässlich, erfolgreich oder unantastbar sein musst?
Mit Hilfe welcher Kriterien du frühzeitig eine psychische Belastung bei dir feststellen kannst, findest du in diesem Artikel. Zudem kannst du dich kostenlos in meinen Newsletter eintragen und an meinem Vortrag über psychische Belastungen teilnehmen. Das wird dir helfen dein Wissen über deine psychische Gesundheit zu erweitern.
Es fällt dir schwer zu beschreiben, was in dir vorgeht
Psychische Belastungen können sich auf unterschiedliche Weise bemerkbar machen. Manche Menschen entwickeln zuerst körperliche Symptome, die jedoch keine eindeutige medizinische Ursache habe. Schlafstörungen, Beschwerden im Magen-Darm-Trakt, wiederkehrende Verspannungen, Schmerzen oder die Zunahme von Infekten. Andere erleben Motivationseinbrüche und zunehmende Erschöpfbarkeit oder Kraftlosigkeit. Bei anderen manifestieren sich Stimmungsschwankungen, sie fühlen sich schneller gereizt oder kommen sich vor, als stünden sie dauerhaft unter Spannung. Und wiederum andere fühlen sich zunehmend wie abgeschaltet, als gebe es nichts mehr, was sie tief im Inneren berühren könnte. Manche fühlen sich plötzlich mit Sinnfragen, Befürchtungen, Sorgen und mit Grübelschleifen konfrontiert, finden aber keine befriedigenden Antworten.
Psychische Belastungen machen sich bei jedem Menschen individuell bemerkbar. Ein und dieselbe Person kann die Entwicklung psychischer Probleme im Laufe des Lebens auch nochmal anders erleben. Je nach Alter, Lebenssituation, Gesamtzustand der Person oder je nach belastenden Themen und Problemen.
Angenommen, du fühlst dich in letzter Zeit wie benebelt. So als ob dich nichts mehr erreichen könnte, als ob du innerlich wie leer seist, dabei auch kraftlos und erschöpft. Und zwischendurch kommen plötzlich Phasen, in denen du total emotional wirst, ja sogar schnell gereizt und unzufrieden. Doch du weißt nicht, warum du mal so und mal so bist. Du weißt nicht, woran es liegen könnte, du merkst nur, dass du dich nicht mehr wohl fühlst. Als stündest du neben dir. Dann kann sein, dass es dir schwerfällt, in einem Gespräch die richtigen Worte für deinen Zustand zu finden. Du fragst dich vielleicht:
„Wie soll ich bloß ausdrücken, was ich selbst noch gar nicht verstehe?“
„Wie finde ich die richtigen Worte für etwas, das ich selbst noch gar nicht greifen kann?“
„Wie soll ich einer anderen Person meinen Zustand beschreiben, wenn ich selbst darüber noch total verunsichert und verwirrt bin?“
Du hast Angst missverstanden und negativ bewertet zu werden
Im Außen führen psychisch belastete Menschen ein völlig normales und funktionierendes Leben. Ihr Leben fühlt sich aber im Inneren nicht mehr so normal an und es fühlt sich oft so an, als ob sie sich mehr anstrengen müssen, um alles am funktionieren zu haben.
Im Außen wirkst auch du vielleicht noch fröhlich, selbstbewusst, leistungsfähig oder interessiert und motiviert. Für andere wirkst du vielleicht wie jemand, die/der das Leben in Griff hat, die/der alles hinkriegt – bei dir läuft es doch ganz normal. Doch im Inneren bist du vielleicht oft verunsichert, hilflos, überfordert und fühlst dich gar nicht mehr so wohl. Im Inneren grübelst du vielleicht seit einiger Zeit über bestimmte Probleme und findest keine Lösungen. Du merkst, wie dir die Puste längst ausgegangen ist und du sehnst dich nach Ruhe und Entlastung.
Im Außen versuchen psychisch belastete Menschen meistens alles so stabil, normal und unauffällig wie möglich weiter am Laufen zu halten. Es kostet nur mehr Kraft, Zeit und Aufwand. Sie wollen nicht negativ auffallen, sie wollen niemandem Kummer bereiten und wollen auch nicht als „leistungsschwächer“ gelten. So vielleicht auch du.
Auch du möchtest vielleicht keine negative Aufmerksamkeit erregen und nicht als schwach oder faul gelten, nur weil es dir schwerfällt, morgens aus dem Bett zu steigen und du auf der Arbeit doppelt so viel Anstrengung für die Erledigung deiner Aufgaben brauchst, wie sonst (oder wie scheinbar andere um dich herum). Du möchtest beruflich nicht zum Problemfall werden und machst dir vielleicht Sorgen um deine Position, schließlich bist du auf den Job und das Geld angewiesen. Und privat willst du nicht zum Sonderfall werden und machst dir Sorgen darüber, dass du Beziehungen gefährden könntest. Es gibt noch zahlreiche Vorurteile gegenüber psychischen Problemen und du willst einfach nicht in die „Psycho-Schublade“ geschoben werden – verständlich!
Für Außenstehende sind psychische Probleme oft schwer nachvollziehbar. Wenn es den Betroffenen selbst schon schwerfällt nachzuvollziehen, was und warum etwas passiert, wie soll jemand im Außen es besser oder richtig verstehen können? Auch das führt oft dazu, dass Betroffene versuchen ihre psychischen Probleme mit sich selbst auszumachen.
Du glaubst, dass du deine psychischen Belastungen alleine bewältigen musst
Apropos mit sich selbst ausmachen…
Was meinst du, wie viele Menschen, die du kennst, sind im Inneren Alleinkämpfer? Nicht Einzelkämpfer, sondern Alleinkämpfer.
Ein:e Alleinkämpfer:in ist eine Person, die versucht ihre Aufgaben, Themen, Herausforderungen, Probleme und Belastungen alleine zu bewältigen und zu lösen. Das ist eine Person, der es aus verschiedenen Gründen schwerfällt, um Hilfe zu bitten oder Hilfe anzunehmen. Anders als ein:e Einzelkämpfer:in hat sie viele gute Beziehungen und pflegt ehrliche und liebevolle Freundschaften, sie lässt auch Menschen an sich ran, aber behält dennoch einiges für sich.
Bist du vielleicht auch ein:e Alleinkämpfer:in?
Hinter dieser Art stecken oft tiefe innere Überzeugungen, die aus früherer Prägung resultieren.
Womöglich wurdest du früher oft enttäuscht, verletzt oder ausgenutzt und hast bis heute Schwierigkeiten, dich jemandem von deiner sensiblen und verletzlichen Seite zu zeigen und dich anzuvertrauen.
Vielleicht wurde dir beigebracht, deine Themen alleine zu lösen. Bis heute hast du es verinnerlicht, dass es wichtig ist, deine Angelegenheiten alleine regeln zu können.
Vielleicht hast du verinnerlicht, dass andere wichtiger sind als du. Du willst, dass es anderen gut geht und vermeidest es, anderen zur Last zu fallen. Oder du möchtest nicht zu viel Raum für dich beanspruchen, keinen Kummer bei geliebten Menschen auslösen und bestimmt willst du niemandem ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle machen.
Vielleicht liegt die Prägung in dir, dass du immer stark und leistungsfähig sein musst. „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Dadurch neigst du womöglich dazu, zu viel Verantwortung auf dich zu laden, deine Belastungsgrenzen zu überschreiten und viel von dir abzuverlangen.
Oder du findest, dass du es nicht wert genug bist, dass sich andere Menschen (selbst Nahestehende) mit dir beschäftigen. Selbstkritik oder Selbstablehnung sorgen dafür, dass du dich zurückhältst und dich nicht weiter um dich und dein Wohlergehen kümmerst.
Womöglich bist du im Inneren verbittert über etwas oder hast nicht den Glauben daran, dass dir jemand anderes helfen kann. Dass es nichts bringt mit jemandem zu reden, weil dich niemand verstehen wird.
Zum Schluss
Es ist schwer über etwas zu sprechen, das du selbst noch gar nicht richtig erfassen und verstehen kannst. Es ist kein schönes Gefühl, alles mit dir allein ausmachen zu müssen. Und es ist nicht hilfreich, bei psychischen Problemen darauf zu warten, dass der Urlaub alles wieder besser macht – denn in Wahrheit weißt du, dass der Urlaub nur ein kleiner Tropfen auf einem großen heißen Stein ist.
Ich möchte diesen Artikel nicht mit Allzeitweißheiten und Tipps beenden, sondern mit drei simplen Fragen:
- Was wird dir helfen, vertrauensvolle Gespräche mit Nahestehenden zu führen und über deine Belastungen und Problemen zu sprechen?
- Wie kannst du dir selbst helfen und Rahmenbedingungen für solch ein Gespräch erschaffen?
- Was können Nahestehende tun, um dir ein gutes Gespräch über deine Belastungen und Probleme zu ermöglichen und vor allem das Sprechen darüber zu erleichtern?
Vielen Dank für deine Zeit & Aufmerksamkeit