„Wenn ich psychische Probleme hätte, würde ich mich schämen darüber zu sprechen.“ Das sagte eine Psychologin zu mir und pflichtete mir bei, dass in unserer Gesellschaft Psyche eine Privatsache ist. Lass uns diesen Artikel zum Anlass nehmen über die 4 wesentlichen Ursachen der Scham zu sprechen, die Menschen empfinden, wenn es um ihren seelischen Schmerz geht. Denn Scham fängt nicht erst beim Sprechen an.
Depression ist doch ein Zustand der Schwachen und Faulen.
Man könnte meinen solche Sprüche wären Schnee von gestern, aber leider stecken diese Überzeugungen noch tief in den Köpfen vieler Menschen. Dabei berichten z.B. einige Krankenkassen von Studien, die angeblich einen Rückgang von Tabuisierung und Vorurteilen gegenüber psychischen Problemen und Krankheiten feststellen. Und dennoch… Die Erfahrungen aus der Praxis verraten mir ein anderes Bild.
Was ist deine Erfahrung, wenn es um die Thematisierung von psychischen Problemen geht?
Inhaltsverzeichnis
Scham-Ursache #1: Verfehlte Informationen, Mangel an Transparenz & Klarheit
Zum Psychologen gehen doch nur die, die ihr Leben nicht in den Griff kriegen.
Was soll man schon beim Psychologen? Auf der Couch liegen und über Probleme sprechen kann ich auch zu Hause. Nur zu Hause ist es bequemer und kostet weniger Geld.
„Psyche“ – was soll das sein? Was genau ist psychische Gesundheit? Was verstehst du unter psychischen Problemen und wann darf man von psychischen Krankheiten sprechen? Wann macht es Sinn sich an einen Therapeuten zu wenden? Wann ist eine Psychotherapie sogar dringend notwendig?
Wie sieht eine Prävention für den Erhalt von Wohlbefinden und Lebensqualität aus? Welche Themen gehören überhaupt in die Beratung oder in die Therapie? Welche Rechte haben Patienten in einer ambulanten Psychotherapie oder in einer stationären Rehabilitation?
Findest du für dich zufriedenstellende Antworten auf diese Fragen?
Psychische Themen sind ein blinder Fleck
In unserer so aufgeklärten Gesellschaft gibt es bezüglich psychischer Themen einen blinden bzw. schwarzen Fleck. Dieser blinde Fleck heißt verfehlte Information und geringe Transparenz.
Etliche Fachleute, Verbände, Organisationen und Krankenkassen bemühen sich um Aufklärung und bessere Informationen. Man kann also nicht sagen, dass nichts passiert. Aber dennoch ist dieser blinde Fleck weiterhin da. Und einer der Gründe liegt darin, dass all diese Informationen leider am Verbraucher vorbeigehen. Sie sind oft zu fachspezifisch, aber leider nicht verbraucherfreundlich. Und leider verfehlen sie ihr Ziel nicht nur dari, Betroffene anzusprechen, sondern die breite Bevölkerung für psychische Themen zu sensibilisieren.
Was mir oft auffällt ist, dass Artikel über Psychotherapie oder psychische Probleme so sachlich, trocken und professionell geschrieben sind, dass selbst ich an den Punkt komme, wo ich einfach keinen Bock mehr habe weiterzulesen. Oder mir raucht vor Sachlichkeit und Fachsprache irgendwann der Kopf. Und vielleicht kennst du es auch, dass du anfängst einen Artikel über Psychotherapie zu lesen und dir denkst: „Boa ne, das ist mir zu viel. Irgendwie geht das total an mir vorbei…“ Und was passiert? Du springst ab und übrig bleibt immer noch das Gefühl nicht wirklich aufgeklärt zu sein, nicht Bescheid zu wissen und damit mit deinen Fragen allein zu sein.
Ich glaube, was Menschen brauchen sind benutzerfreundliche, ansprechende, einfach verständliche Informationen. Kein psychologisches Fach-Bla. Wir brauchen Aufklärung auf Augenhöhe. Etwas, das aufrüttelt, zum Nachdenken bringt, in Eigenverantwortung begleitet und sich leicht umsetzen lässt. Deswegen habe ich mich entschieden meinen Blog so zu schreiben, wie ich es bis jetzt tue.
Ein Beispiel
Es ist ein leichtes für einen Hausarzt rechtzeitig eine depressive Entwicklung oder ein essgestörtes Verhalten festzustellen und entsprechend rechtzeitig präventive Schritte einzuleiten. Man sollte meinen, es gehöre zu den Aufgaben eines Hausarztes, die Betroffenen an die richtige Adresse weiterzuschicken. Das würde den Arzt keine 10 Minuten kosten. Doch leider ist es wesentlich einfacher zu sagen „Sie müssen den Stress reduzieren.“ Oder man könnte Vitamine verschreiben. Wenn der Hausarzt doch eine F-Diagnose vergibt, sind es nicht selten wilde Kodierungen, die nicht dem Zustand und den Bedürfnissen des Patienten gerecht werden. Und hier hört ganz oft die „Behandlung“ auch schon auf. Die Betroffenen gehen nach Hause, haben tausend Fragen im Kopf, fühlen sich unverstanden und abgetan und funktioniert weiter.
Die Folgen
- Wenn Aufklärung nicht nur die Zielgruppe verfehlt, sondern auch den Rest der Gesellschaft nicht richtig sensibilisiert, können Menschen kein Verständnis, kein Vertrauen, keine Offenheit und auch keine Akzeptanz für „psychische Themen“ aufbauen. Die Psyche bleibt ein sonderbarer, unerklärlicher Sonderfall.
- Wenn verbraucherfreundliche und praxisorientierte Informationen fehlen, bleiben diejenigen auf der Strecke, die diese Informationen wirklich dringend brauchen.
- Und wenn „psychische Themen“ ein Sonderfall bleiben, möchte kein Mensch sich freiwillig den Stempel „Sonderfall“ aufdrücken lassen und sich noch verletzlicher, angreifbarer und ausgesonderter fühlen, als er es bereits tut.
Scham-Ursache #2: Verschobenes Werte-System und anerzogene Überzeugungen
Menschen, die Therapie machen, sind doch schwach.
Das sind doch die, die ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen.
Welche Werte werden uns heute beigebracht?
Spätestens in der Grundschule werden wir in ein System geschoben und uns werden ganz bestimmte Werte anerzogen. Für den Rest des schulischen Werdeganges und später im Berufsleben sind das die folgenden „Werte“:
- Anpassung
- Pflichtgefühl
- Konformität
- Leistung
- Durchhaltevermögen
- Erfolgsstreben
- Dualität
- Mangelorientierung
Unsere Kinder – so heißt es- müssen schließlich auf die „harte Realität des echten Lebens“ vorbereitet werden.
Doch wer erschafft und hält dieses harte Leben aufrecht, wenn nicht diejenigen, die unseren Kindern genau diesen Mist einflößen?
Wie viele Momente in deinem Leben gab es, in denen man dir sagte: „So läuft es halt im Leben.“ oder „Du musst dich zusammenreißen und stark sein.“ oder „Wenn du nicht arbeiten kannst, bist du auch nichts wert!“. So typische Bullshit-Sätze von Menschen, die meinen dich erziehen und dir was über das „echte Leben“ beibringen zu müssen. Und wenn du das erlebt hast, wie hast du dich dabei gefühlt? Welche Einstellungen über dich selbst und über das Leben wurden dir beigebracht? Und haben dich diese Einstellungen jemals wirklich zufrieden oder glücklich gemacht?
Die Folgen
Mit diesen „Werten“ werden Überzeugungen geprägt, die Auswirkungen auf unser Leben haben. Sowohl in der Schule, als auch im Beruf, aber auch innerhalb der Familie und später auch in der Partnerschaft verankern sich negative Prinzipien des Lebens. Zum Beispiel:
- „Ich muss stark sein.“
- „Ich darf niemanden enttäuschen.“
- „Sei ein richtiger Mann – richtige Männer heulen nicht.“
- „Ich darf mir keine Fehler erlauben.“
- „Ich darf keine Schwäche zeigen.“
- „Über Gefühle spricht man nicht.“
- „Ich muss allen gerecht werden.“
- „Ich muss durchhalten/ funktionieren.“
- „So wie ich bin, bin ich nicht gut genug.“
- „Ich muss perfekt sein.“
- „Ich muss alles alleine schaffen.“
Unsere Werte bilden das moralische, gedankliche, emotionale und ethische Fundament für die Gestaltung unseres Lebens.
Doch das, was uns eingeflößt wird, sind keine Werte, es sind Maßnahmen der Kontrolle. Über jedem Wert und über jeder Überzeugung stecken die Worte „ICH MUSS“ und „ICH DARF NICHT“. Diese Worte sind in den meisten Köpfen so tief verankert, dass das Erleben von psychischen Problemen als persönliches Versagen empfunden wird.
Solche Werte und Überzeugungen sind der Nährboden für Scham, Schuldgefühle, Versagensgefühle und schlechtes Gewissen.
Menschen kriegen schon ein schlechtes Gewissen NEIN zu sagen, sich abzugrenzen oder über eigene Bedürfnisse zu sprechen. Da brauchen wir von psychischen Problemen gar nicht erst anfangen…
Wie ist es bei dir? Kannst du mit erhobenem Kopf und frei von Scham zu deinen Schwächen und zu deinen schwachen Momenten stehen, deine Sensibilität zeigen, deine Probleme ansprechen und dich als die Person zeigen, die du wirklich bist?
Das Leben wird maschinell. Doch als ob das nicht reicht, wünschen sich Menschen wie eine Maschine funktionieren zu können, weil es „einfacher“ ist, als sich selbst ehrlich zu erleben und auszuleben. Weil es uns nicht anders beigebracht wird.
Andere, zutiefst menschliche Werte werden nicht gefördert, gefordert und bei weitem nicht genug anerkannt. Stichwort: Güte, Menschlichkeit, Humor, Offenheit, Akzeptanz, Verständnis, Wertschätzung, Dankbarkeit, Vertrauen und Respekt.
Scham-Ursache #3: Schubladerei, Entwertung und Entwürdigung
Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich wirklich in Therapie soll. Aus meinem Umfeld ahnt keiner, dass ich Hilfe brauche. Ich bin doch nicht irre. Aber ich möchte nicht, dass über mich so geurteilt wird.
Abfällige Kommentare über psychisch Kranke, Behinderte, Adipöse oder einfach andersartige Menschen fangen schon bei Kleinkindern an. Dann stehen die beschämten Eltern daneben und sagen: „Aber Lotta, sowas sagt man nicht.“ Fragt sich nur, wo die kleine Lotta das Gesagte aufgeschnappt hat.
Was läuft da falsch? Wo lernen die Kinder so zu sprechen? Seit wann ist es schick geworden über andere abfällig zu reden?
Es ist schick geworden vorgefertigte Meinungen zu übernehmen und schneller zu bewerten, als der eigene Verstand schalten kann. Ich weiß, ich bin gesellschaftskritisch und ich weiß, dass nicht alle so ticken. Aber es ist schick geworden eine giftige Zunge zu haben, sei es nur dafür, um von sich selbst abzulenken.
Die Folgen:
Unsere Gesellschaft lebt im HÖHER, SCHNELLER, WEITER. Und es ist gut fortschrittlich zu sein, nach Entwicklung, Wachstum und Verbesserung zu streben. Aber obwohl wir in einem freien Land leben, fühlen sich nur die wenigsten wirklich frei, um sich als Persönlichkeit entfalten zu können.
Zuerst war es die Depression, die eine „Modekrankheit“ wurde. Dann wurde dem Burn-Out nachgesagt, es sei die Krankheit der Neuzeit. Über Essgestörte spricht man, als seien sie Aliens, die sich bloß beim Essen anstellen. Menschen mit Zwängen seien total irre und vor Menschen mit Schizophrenie müsse man Angst haben. Das sind nur wenige Beispiele, die zeigen, wie schlimm die ENT-(Be)-wertung psychischer Themen ist. Und damit wird auch jede einzelne Person in ihrer Würde entwertet, die von diesem Problem oder dieser Krankheit betroffen ist.
Doch es sind auch die Betroffenen selbst, die ihre „Erfahrungen“ zum Besten geben. „Depressive sind faul“ – höre ich schon mal von Menschen mit Burn Out. „Die müssen doch einfach nur essen.“ – schimpfen Depressive über Essgestörte. Und die ängstlichen Zeitgenommen? „Sie müssten sich doch einfach mal ihrer Panik stellen.“Wenn schon Betroffene über einander so urteilen und sich gegenseitig so entwürdigen, wie würdest du dich dann fühlen, wenn du deine eigenen psychische Probleme zugeben wollen würdest?
Und schließlich ernennen sich interessierte Laien und engagierte Betroffene zu Experten und diagnostizieren einander die wildesten psychischen Probleme. Zum Beispiel wird um Narzissmus ein Hype gemacht, ohne darüber nachzudenken, was man der betreffenden Person damit für einen Stempel aufdrückt. Es kann doch kaum angehen, dass jeder, der ein gesundes Selbstwertgefühl besitzt, in der Gefahr leben muss als gemeingefährlicher Narzisst abgestempelt zu werden. Aber ja… Schubladerei ist ein riesiges Thema, warum Menschen sich schämen über die eigene Psyche zu sprechen…
Scham-Ursache #4: Angst als Katalysator für Scham
Über psychische Probleme zu sprechen heißt in Verantwortung für das eigene Wohlbefinden und die eigene Lebensqualität zu treten. Es heißt sich ehrlich zu zeigen, zu sich selbst zu stehen und eventuell auch andere zum Nachdenken zu bringen.
Über psychische Probleme zu sprechen heißt auch den ersten Schritt zu gehen, um Hilfe und Unterstützung zu bekommen.
Ob am Arbeitsplatz. Innerhalb der Familie. Oder unter Freunden.
Wäre da nicht die Angst. Angst regiert die Köpfe und Anpassung und Durchhaltementalität beherrschen den Alltag.
Es ist die Angst verurteilt oder sogar ausgegrenzt zu werden und als Versager dazustehen.
Es ist die Angst, Beziehungen zu gefährden oder seine Arbeitsstelle zu verlieren.
Angst, sich die eigene Zukunft zu verbauen.
Manchmal ist es auch die Angst, unverstanden zu bleiben und keine Hilfe zu finden. Die Angst ein hoffnungsloser Fall zu sein.
Die Angst, dass man ein Schwächling ist, der sich blöd anstellt. Denn andere kriegen doch auch alles hin!? Scheinbar…
Und dann gibt es die Angst vor Veränderungen. Veränderung bedeutet, FÜR SICH SELBST aktiv zu werden, Eigenverantwortung zu übernehmen und die eigene Komfortzone der Anpassung zu verlassen.
Die Folgen:
Angst als Gefühl verstärkt Scham und Versagensgefühl.
Angst lässt uns verstummen und blind werden.
Und schließlich entsteht eine große Angst vor der Wahrheit.
Stell dir vor du spürst bereits tief in dir, woher deine eigenen Probleme kommen und was du tun müsstest, um diese aus der Welt zu schaffen. Vielleicht ist es deine Partnerschaft, die dich langsam vergiftet. Oder dein Arbeitgeber, der dich ausbeutet. Vielleicht hast du dich in den letzten Jahren massiv vernachlässigt und bist jetzt zu „Everybody’s Darling“ geworden und anderen passt das gut in den Kram. Oder du müsstest dich dringend um deinen Körper kümmern oder endlich mal aufhören an vergangenen bitteren Erfahrungen zu nagen. Und dann merkst du, dass du dir unangenehme Wahrheiten eingestehen musst, damit sich was ändert. Und das könnte die Angst wecken, dass du ein Kartenhaus zum Einstürzen bringst, das du dir über Jahre aufgebaut hast. Dann kommt dir leugnen, ignorieren und verdrängen vielleicht als die bessere Alternative vor, als dein Leben auf den Kopf zu stellen. Denn dafür müsstest du der Wahrheit ins Gesicht blicken.
Was denkst du darüber?
Gehörst du zu den Menschen, die sich dafür schämen würden über eigene (psychische) Probleme zu sprechen? Wenn ja, hoffe ich, dass du weißt: Du bist nicht allein. Scham ist wie eine Massenepidemie. Welche der Ursachen kämen für dich in Frage? Oder kennst du jemanden aus deinem Umfeld, auf den dieser Artikel passen könnte?
Was könntest du selbst tun, um etwas zu verändern? Um für dich, andere Menschen und nachkommende Generationen das Thema des „Seelenheils“ zu ent-schämen?
Das hier ist ein gesellschaftskritischer, aber kein schwarzmalerischer Artikel. Natürlich ist nicht aller nur negativ. Es gibt Organisationen und viele einzelne Menschen, die sich für mehr Toleranz und gegenseitige Unterstützung bei psychischen Problemen einsetzen. Es dürfen eben noch viel mehr werden! Wenn du jemanden kennst, den du hier gerne empfehlen würdest, dann hinterlass doch den Namen, die Website oder den Link zu den Social Media dieser Personen im Kommentarfeld. Lass uns diesen Menschen Wertschätzung entgegenbringen!
Danke für deine Zeit und Aufmerksamkeit!
Tatjana
Du siehst hier Bilder von @Anthony Tran, von @kilarov zaneit, von @Nathan Dumlao und von @Steve Halama von Unsplash.