Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Sich ambulant oder stationär behandeln zu lassen, erfordert Arsch in der Hose. Warum das so ist und warum es absolut sinnvoll ist, sich auf die stationäre Therapie vorzubereiten und ein „Klinik-Prepper“ zu werden, zeige ich dir nun.
Inhaltsverzeichnis
Fun Fact
Um zu verstehen, warum es sich lohnt ein „Klinik-Prepper“ zu werden, müssen wir einen Umweg über meine Interessen nehmen (und spring jetzt bloß nicht ab, nur weil es kurz seltsam sein könnte 😉 ).
Ich bin ein Fan von Bear Grylls (nun ist das Geheimnis wohl raus). Das ist der Typ aus „Ausgesetzt in der Wildnis“, der sich durch die menschenfeindlichsten, wildesten und mitunter gefährlichsten Ecken unseres Planeten durchkämpft und dabei unter Beweis stellt, dass der Mensch auch unter den härtesten Umständen und in verschiedensten Extremsituationen überleben kann. Er ist ein archetypischer Abenteurer: waghalsig, risikobereit und dabei äußerst sympathisch. Als Survival-Experte zeigt er Menschen verschiedene Überlebensfähigkeiten in den kritischsten Lebenslagen. Sein Lebensmotto: „Mut und Freundlichkeit.“
Jetzt fragst du dich bestimmt, was Bear Grylls mit mir, meinem Blog, einer stationären Therapie und mit dir zu tun hat oder?
Im Laufe meiner Arbeit in psychosomatischen Kliniken wurde mir bewusst, dass sich auch die Menschen im Rahmen ihrer stationären Therapie in einer Extremsituation befinden. Nicht etwa, weil ihnen Wasser, Nahrung oder ein sicherer Unterschlupf fehlen oder sie von Alligatoren, giftigen Spinnen oder unerträglicher Kälte bedroht werden. Nein.
Extremsituation stationäre Therapie
Die Extremsituation der Patient:Innen besteht darin, sich in fremder Umgebung vor fremden Menschen eigenen Themen zu stellen, prägende Lebenserfahrungen hochzuholen, tiefsitzende Überzeugungen zu entblößen und sich mit unangenehmen Gefühlen zu konfrontieren. Das ist nicht das klassische Szenario des nackten Überlebens in der harten Wildnis. Aber es ist eine intime, sensible und persönliche Form des („Über“-)Lebens in einer komplexen Umgebung, in der man sich wünscht, ausreichend innere Widerstandskraft zu haben, um alle Hürden zu meistern.
Wenn es Survival Guides für das Überleben im Wald gibt, wie kann es sein, dass es bislang keinen „Survival Guide“ für das Meistern einer stationären psychosomatischen Therapie gibt?
Wenn es für jede erdenkliche Lebenslage einen Ratgeber gibt, wie kann es sein, dass es bisher für so einen besonderen und wichtigen Lebensabschnitt keinen Wegbegleiter gibt? Eine stationäre psychosomatische Behandlung ist eine Extremsituation!
In mir keimte im Laufe der letzten Jahre der Wunsch, Menschen in eben dieser Extremsituation zu unterstützen. Schließlich geht es nicht um einige wenige Menschen, die sich in eine psychosomatische Klinik wagen. Es geht um Millionen Menschen, die unter psychischen Belastungen leiden und dringend verlässliche und wirksame professionelle Hilfe benötigen. Und es geht um hunderttausende Menschen, die jährlich besorgt, ängstlich, aufgeregt und hoffnungsvoll eine stationäre Therapie antreten. Aus guten Gründen.
Jeder dieser Menschen ist wichtig.
Jeder dieser Menschen verdient wertschätzende, mitfühlende und respektvolle Begleitung und Unterstützung!
Nun sind wir beide nicht Bear Grylls und wir müssen auch nicht so werden. Aber es gibt eine Menschengruppe namens „Prepper“, von denen wir uns eines abgucken können…
Was ist ein Prepper?
Prepper (geschlechtsneutral) als Wort leitet sich ab aus dem Englischen „to be prepared“, was so viel bedeutet wie „vorbereitet sein“. Ein Prepper ist eine Person, die sich auf verschiedene Extremsituationen, Krisen und Katastrophen vorbereitet. Oft werden diese Menschen als paranoide und extremistische Kontrollfreaks oder Verschwörungstheoretiker belächelt.
Aber ich verstehe einen Prepper als eine Person, die ihre Fähigkeiten und Kenntnisse dahingehend erweitert, dass sie selbst in Krisenzeiten nicht von Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit lahmgelegt wird, sondern ihre Handlungsfähigkeit beibehält.
Ein Prepper handelt in kritischen Situationen nicht panisch und steckt auch nicht den Kopf in den Sand. Ein Prepper handelt besonnen, wohlüberlegt und vorausschauend. Einem Prepper geht es um Verantwortung sich selbst und den Liebsten gegenüber. Sicherheit, Schutz, ein gewisser Grad an (Selbst-)Kontrolle und vor allem Selbstwirksamkeit und Unabhängigkeit sind für einen Prepper wichtige Werte.
Überlege für einen Augenblick, was du dir von so einer Haltung abschauen könntest und inwiefern dir eine „to be prepared“-Haltung für deinen Klinikaufenthalt nützen könnte. Ich gebe dir dazu ein grobes Beispiel, wie ich es in der Praxis häufig erlebt habe:
Simones Beispiel:
Simone* begab sich 2012 in eine stationäre psychosomatische Klinik mit der Hoffnung, von ihrer schweren Depression und Angststörung befreit zu werden. Es war ihr erster Klinikaufenthalt. Eine ambulante Therapie war bis dahin erfolglos geblieben. Kurz nach ihrer stationären Aufnahme erkrankte ihre Bezugstherapeutin und Simone bekam eine andere Therapeutin für die Einzelpsychotherapie. Leider ging diese Therapeutin nach zwei Wochen in den Urlaub und Simone kam bei einem dritten Therapeuten unter. Dadurch kam Simone in der Einzeltherapie kaum voran und hatte Schwierigkeiten sich auf die Einzeltherapie einzulassen. Sie wurde immer unzufriedener, aber behielt ihren Frust bei sich. Sie wusste leider nicht, wie sie sich in dieser Lage hätte selbst helfen können. Auch ihre anderen Therapien liefen nur schleppend an. Sie erwischte leider eine Phase der personellen Unterbesetzung an der psychosomatischen Klinik, was zahlreiche Therapieausfälle zur Folge hatte.
Leider lief es auch sonst nicht rund. Anstelle sich auf sich selbst zu konzentrieren, machte Simone das, was sie am besten konnte: anderen Menschen zuhören und für andere da sein. Sie wurde zur beliebten Co-Therapeutin und verlor wertvolle Zeit, um sich mit eigenen Themen zu beschäftigen. Abgrenzung als wichtiges Thema innerhalb der Klinik hatte sie einfach nicht auf dem Schirm. In Gruppensituationen fühlte sie sich schnell überfordert und traute sich nicht, ihre Themen anzubringen. Sie fühlte sich in der Klinik zwar wohl und knüpfte angenehme Kontakte, aber im Therapieprozess stagnierte sie, fühlte sich nicht gesehen und nicht verstanden. Als sich ihr Aufenthalt dem Ende neigte, überkamen Simone Gefühle der Überforderung und der großen Angst vor der Rückkehr nach Hause. Sie fühlte sich nicht vorbereitet. Ihr Fazit zur Klinik lautete: „Es war eine wohltuende Auszeit vom Alltag, aber leider hat es mir sonst nicht weiter geholfen.“
Die unangenehme Wahrheit über psychosomatische Kliniken
Eine psychosomatische Klinik ist ein Ort der Hilfe und Unterstützung. Hier bekommst du eine multimodale professionelle Behandlung, wie du sie im ambulanten Bereich nicht genießen könntest. Ließ bitte hier, wenn es dich interessiert, was eine Klinik für dich leisten kann.
Aber auch eine Klinik ist kein Ort des selbstverständlichen Entgegenkommens, wo alles nach deinen Vorstellungen und Wünschen abläuft. Es ist zwar ein geschützter Raum, die sogenannte „Käseglocke“, aber kein Ponyhof mit Wunschkonzert.
Personalmangel, Ausfälle wichtiger Therapien, Terminverschiebungen, übergriffige oder grenzüberschreitende Mitpatient:innen, Stagnation im Therapieprozess, Missverständnisse, Fehlentscheidungen und so vieles mehr kann auftreten und ist (leider) normal. Selbst wenn das Personal an der Klinik stets bemüht ist, die Prozesse optimal am Laufen zu halten, sind es am Ende des Tages auch nur Menschen, die ihr Möglichstes tun. Und das meine ich nicht abwertend oder überkritisch. Ich habe es selbst tagtäglich erlebt und blicke realistisch auf die Chancen und Grenzen einer stationären Therapie.
Vor allem, wenn du dich zum ersten Mal in eine psychosomatische Klinik begibst, macht es Sinn, sich auf die Zeit in der Klinik einzustimmen und vorzubereiten. Es macht Sinn ein „Klinik-Prepper“ zu werden.
Denn was nicht funktioniert ist mit überhöhten Erwartungen oder unrealistischen Hoffnungen eine stationäre Therapie anzutreten und sich dabei zu wünschen in der Klinik würde alles optimal laufen. Leider besteht das Risiko, dass „optimal“ nicht eintritt und du enttäuscht und gefrustet sein wirst. Das Schlimmste wäre, wenn du deine stationäre Behandlung als erfolglos, sinnlos oder sogar als Zeitverschwendung empfinden würdest. Oder dass der Aufenthalt sogar zu einer Verschlimmerung deiner Situation beigetragen habe.
Es liegt doch auf der Hand…
WENN du dich an eine Klinik traust, DANN sollte die Zeit dort trotz aller bürokratischer oder zwischenmenschlicher Schwierigkeiten so nützlich für dich sein, wie nur möglich.
WENN du selbst einen Teil dazu beitragen kannst, deinen Klinikaufenthalt zu optimieren, DANN solltest du das auch unbedingt machen. Das geht durch gewisse Vorbereitung, deine Einstellung und deine aktive Mitwirkung. Es ist nichts anderes als eine Form der „Prepper-Haltung“. Und mein Ziel ist es, dir auf meinem Blog dabei zu helfen!
Was ich dir rate, hat übrigens nichts mit Kontrollzwang oder Überängstlichkeit zu tun, sondern wird dir dienen die Zeit in der Klinik trotz aufkommender Schwierigkeiten bestmöglich FÜR DICH zu nutzen.
Darum ermutige ich dich zum Klinik-Prepper zu werden. Sei vorausschauend, handle in deinen Absichten besonnen und wohlüberlegt.
Nutze die dir gebotenen Chancen, bleibe fokussiert und überbrücke gerüstet die negativen Aspekte eines Klinikaufenthaltes.
Zuletzt ein weiteres Beispiel, weshalb „vorbereitet sein“ im Sinne des Prepper-Verständnisses bereits in unserem Gesundheitssystem Fuß gefasst hat: Erste-Hilfe-Kurse für körperliche Notfälle bereiten dich darauf vor besonnen in Notsituationen reagieren und helfen zu können. Aus eben diesem Grund ist die Etablierung von Erste-Hilfe-Kursen für psychische Probleme und Krisen mindestens ebenso sinnvoll, wie wichtig im Sinne einer „Prepper-Haltung“ 😉
Ich danke dir für deine Zeit und Aufmerksamkeit