Unsere Gefühle begleiten uns von unserem ersten bis zu unserem letzten Atemzug. Als Psychologin höre ich Menschen oft sagen, dass sie ihre Gefühle besser verstehen und kontrollieren wollen, weil sie sich ihnen so ausgeliefert fühlen. Ich werde oft gefragt, warum Gefühle so viel Macht auf uns ausüben. Dieser Artikel handelt von einer neuen Perspektive auf unsere Gefühle. Denn ich möchte dir zeigen, warum es keine negativen oder positiven Gefühle geben sollte und was passiert, wenn wir unsere Gefühle so hart bewerten.
Wie oft wünschst du dir deine Gefühle besser in den Griff zu kriegen? Oder bist du eher jemand, der sagt, dass du dich gar nicht von Gefühlen leiten lässt, weil du ein rational denkender und entscheidender Mensch bist?
Tatsächlich gibt es keinen Augenblick in unserem Leben, der frei von Gefühlen ist. Sie sind stets treu an unserer Seite. Täglich erleben wir eine ganze Fülle verschiedener Gefühle. Sie sind mal ganz leise, im Hintergrund mitschwingend oder kommen intensiv und kraftvoll über uns.
Inhaltsverzeichnis
Negative & positive Gefühle
Wir neigen dazu, unsere Gefühle in negative/ schlechte und positive/ gute Gefühle zu kategorisieren. Das ist nichts anderes, als eine Bewertung dessen, was wir erleben.
Mit negativen Gefühlen meinen wir Gefühle, die uns runterziehen, uns Kraft und Zeit kosten, unsere Motivation rauben oder unseren Antrieb mindern. Als schlecht bewerten wir Gefühle dann, wenn wir nicht wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen. Wenn uns also ein Ventil fehlt und diese Gefühle sich so sehr in uns anstauen, dass sie uns aufzufressen drohen.
Typische Gefühle, die als negativ oder schlecht bewertet werden, sind Scham, Schuldgefühle, schlechtes Gewissen, Wut, Ärger, Zorn, Eifersucht, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Angst oder auch Traurigkeit.
Mit positiven Gefühlen meinen wir Gefühle, die „Spaß“ machen. Sprich Gefühle, die uns in unserem Alltag, bei unserem Tun, Erleben und Denken nicht stören. Es sind Gefühle, die uns beflügeln, uns Motivation, Antrieb und Kraft schenken. Als gut bewerten wir Gefühle, die uns also aktivieren und fördern. Mit guten Gefühlen scheinen wir uns in unserem Leben gleich ein ganzes Stück sinnvoller, gesünder und lebendiger zu fühlen.
Typische Gefühle, die als positiv oder gut bewertet werden, sind Freude, Dankbarkeit, Liebe, Neugier, Zufriedenheit, Leidenschaft, Vertrauen oder Erleichterung.
Diese Art, Gefühle zu bewerten, ist inzwischen gängig geworden. So heißt es in Blogartikeln „Wie du deine negativen Gefühle bewältigst“. Auch in der Fachliteratur lese ich oft von negativen und positiven Gefühle. Das ist schade, denn dadurch verselbstständigt sich eine bewertende Sichtweise auf etwas ganz Wesentliches in unserem Leben. Und ich glaube, es hilft uns nicht weiter, wenn wir Prozesse der Bewertung so selbstverständlich werden lassen. Stattdessen dürfen wir uns fragen, inwiefern uns diese Bewertungen sogar schaden.
Folgen der Bewertung in negative & positive Gefühle
Die Folgen dieser Kategorisierung in negative/ schlechte und positive/ gute Gefühle sind:
- Wir beginnen negative Gefühle zu „verteufeln“ und positive Gefühle zu hypen. Damit machen wir sie zu unserem persönlichen Feind. Sie werden zum Problem, das wir bewältigen müssen.
- Wir beginnen uns negativen Gefühlen ausgeliefert zu fühlen. Das trägt unbewusst dazu bei, dass wir uns selbst in eine Opferrolle bringen und uns dort festhalten. Wir werden quasi zu Opfern unserer negativen Gefühle. Die Folge ist, dass wir uns durch unsere eigenen Bewertungen blockieren und uns selbst der Fähigkeiten berauben mit unseren Gefühlen besser umgehen zu können.
- Durch diese Bewertung streben wir nach einem einseitigen Leben, geprägt durch positive Gefühle. Vor allem in der Persönlichkeitsentwicklung und in der spirituellen Szene wird positiven Gefühlen viel Aufmerksamkeit geschenkt, wohingegen negative Gefühle am besten „ausgeschaltet“ werden sollen. Doch dieses einseitige Prinzip funktioniert nicht und so fühlen sich Menschen, die vergebens versuchen keine negativen Gefühle mehr zu fühlen, wie „Versager“.
- Wir neigen dazu uns mit unseren Gefühlen zu identifizieren. Vor allem, wenn wir ein bestimmtes Gefühl über einen längeren Zeitraum erleben. So werten wir z.B. ein Gefühl von Minderwertigkeit als Zeichen dafür, dass wir als Person wirklich nicht gut genug sind. Das Gefühl von Scham wird so bewertet, dass man wirklich etwas Falsches getan hat. Und bei Schuldgefühlen machen wir uns zu einer Person, die nicht gut für andere ist und versagt oder die andere unglücklich macht. Auch hier ist die Identifikation nicht anderes als eine weitere Bewertung. Und mit negativen Gefühlen identifiziert man sich eher zu einer „negativen“ Persönlichkeit.
Ich könnte hier noch weiter schreiben, denn vor allem für Menschen mit Depressionen, Ängsten, Essstörungen oder mit Burn Out ist es ganz entscheidend zu lernen mit allen Gefühlen wertschätzend umzugehen.
Die Bedeutung deiner Gefühle
Wir dürfen nicht vergessen, dass auch negative Gefühle entscheidend für unser Leben sind. Wir wären ohne sie nicht mehr lebensfähig. Ohne sie wüssten wir nur wenig über unsere Bedürfnisse, unsere Grenzen und Möglichkeiten. Wir wären schutzloser, ahnungsloser und nicht mehr beziehungsfähig. Wir wüssten nicht, dass wir uns falsch verhalten haben, dass wir verletzt sind oder dass wir uns in einer blöden Situation befinden.
Jedes Gefühl, das du erlebst, ist gleich bedeutend und wichtig. Vor allem, wenn du oft „negative“ Gefühle erlebst, ist das nicht schlimm. Negative Gefühle verraten oft viel mehr über dich, über deine Bedürfnisse und über deine Lebenssituation, als positive Gefühle.
Negative Gefühle sind Wegweiser, dass etwas in deinem Leben oder in deinem Inneren aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dass du in deinem Leben einen Weg verlassen hast, der dir dient und deiner Persönlichkeit entspricht.
Positive Gefühle kannst du faken, wenn du eine Maske aufsetzt, um in deinem Alltag besser zu funktionieren. Positive Gefühle lassen sich schauspielern und künstlich erzeugen. Doch deine wahren, tiefen Gefühle erzählen deine Wahrheit und diese Gefühle zu achten und zu sehen, ist wirklich wichtig!
Damit will ich auf keinen Fall sagen, dass positive Gefühle für deine persönliche Entwicklung weniger bedeutsam wären, als negative Gefühle. Ganz im Gegenteil. Es geht nicht um wichtiger oder bedeutsamer. Es geht um Gleichwertigkeit.
Egal, mit welchem Gefühl du es im Alltag zu tun hast, jedes Gefühl erzählt eine Geschichte über dich selbst und die Welt, in der du lebst.
Eine alternative Sichtweise
Als Psychologin habe ich mir vor Jahren geschworen Begriffe wie „negativ“ oder „positiv“ im Zusammenhang mit Gefühlen nicht mehr zu verwenden. Und das klappt bis heute bestens. Stattdessen spreche ich von unangenehmen und angenehmen Gefühlen. Auch das ist eine Form der Bewertung, jedoch eine viel seichtere.
Unangenehme Gefühle fühlen sich eben unangenehm an. So ist es und wir brauchen es nicht zu leugnen. Ich sage auch schon mal, dass Schamgefühl ein Arschloch ist. Weil es das oft ist. Und schlechtes Gewissen ist ein miserabler Berater. Dadurch nehme ich diesen Gefühlen ihre Macht und unterziehe sie einem Realitäts-Check.
Angenehme Gefühle sind schön, machen Spaß. Auch das ist okay, es so zu sagen.
Doch zwischen unangenehm und angenehm gibt es keine weitere Unterscheidung in der Wertigkeit und Bedeutung. Etwas Unangenehmes ist nicht gleich schlecht oder negativ. Und nur weil etwas unangenehm ist, ist es nicht unbedeutsam.
Kommst du noch mit? Ich hoffe du kannst nachvollziehen, was ich meine.
Mit diesen anderen Worten entkräfte ich die harte Bewertung von negativ und positiv. In meiner Arbeit hat es sich bislang bewehrt, diesen Weg zu gehen, denn wir alle dürfen lernen mit unseren Gefühlen achtsamer und wertschätzender umzugehen.
Negative Gefühle sind Rückführer
Zum Ende möchte ich dir verraten, wie du deine Gefühle in jedem Fall gewinnbringend betrachten kannst:
Unangenehme Gefühle sind Rückführer.
Unangenehme Gefühle sorgen dafür, dass du dir selbst, deiner Persönlichkeit, deinen Bedürfnissen, Ressourcen und Werten treu bleibst. Sie sorgen dafür, dass du hinterfragst, was du da eigentlich treibst und ob es dir dient, was du machst.
Sie weisen dich auf Themen in deinem Leben oder in deinem Innerem hin, die gesehen und bearbeitet werden wollen. Und sie helfen dir zu einem Weg zu finden, der dir und deinem Umfeld ein besseres Leben ermöglicht.
Positive Gefühle sind Voranbringer
Angenehme Gefühle sind Voranbringer.
Angenehme Gefühle bestätigen dir, dass du deinen Weg gehst.
Sie bekräftigen dich darin, dass du dich entfaltest, deine Ressourcen gut nutzt und deinen Werten folgst.
Angenehme Gefühle bestätigen dir auch, dass du in guter Balance lebst – wie innen so auch außen.
In jedem Fall sind Gefühle hilfreich und dürfen niemals in einer guten Psychotherapie oder in einem guten Coaching fehlen. Persönlicher Wachstum ohne Gefühle ist einfach undenkbar.
Dieser Artikel entstand im Rahmen der Blogparade „Umgang mit Gefühlen“ von Rosina Geltinger, www.rosinageltinger.de/blogparade. Im übrigen sind Gefühle noch komplexer und wichtiger, als in diesem Artikel beschrieben. Ich unterscheide in meiner Arbeit auch zwischen erdachten und natürlichen Gefühlen, zwischen Fremd- und Eingengefühlen. Aber davon berichte ich dir ein ander Mal und freue mich, wenn du meinen Blog wieder besuchst!
Ich danke dir für deine Aufmerksamkeit!
Tatjana
Du sieht hier Bilder von @Ashkan Forouzani von Unsplash und von @Lenalensen von Pixabay.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Liebe Tatjana,
vielen lieben Dank für diesen wertvollen Beitrag. Ein wichtiges Thema, über dass auch ich schon so viel las und ich glaube die wenigsten können sich davon frei sprechen, nicht in positive und negative Gefühle zu unterteilen, genauso wie in gutes und schlechtes Wetter, gute und schlechte Menschen… Das ganze Leben ist Bewertung, es ist anstrengend und bringt einen persönlich oft schlecht drauf. Auch mir persönlich fällt es noch oft schwer in meinem Alltag nicht zu bewerten, dennoch übe ich mich seit Monaten daran es weniger zu tun. Denn mir haben Bewertungen bislang nicht wirklich geholfen. „Negative“ Gefühle wollte ich weg haben (hat aber nie geklappt), die „Positiven“ dafür umso mehr spüren. Oft war ich jedoch frustriert, dass sich die Negativen immer wieder aufdrängten und ja durch meine Bewertung wurden sie für mich zu einem Problem und ich finde mich in allen Punkten wieder, die du zu den Folgen der Bewertung/ Einteilung geschrieben hast. Man kommt in eine Teufelsspirale, die zu durchbrechen, nicht einfach ist.
Doch durch vieles was ich gelesen hab, kam ich ins Nachdenken und habe sämtliche Lebensbereiche daraufhin untersucht, bei den Gefühlen fiel es mit mir am schwersten umzudenken. Die Begriffe angenehm und unangenehm helfen mir jedoch und finde sie auf jeden Fall schon mal die bessere Wahl, es ist stimmiger und tatsächlich weniger hart. Danke dir für diesen ersten Perspektivwechsel =D toll. Dein Perspektivwechsel am Ende gefällt mir auch richtig gut: Rückführer und Voranbringer. Ich hätte es für mich nie so benennen können, aber du hast so recht, ja. Die unangenehmen Gefühle bringen uns zu unserem Kern (zurück), zeigen uns auf was wichtig ist und was noch nicht im Lot ist, aber ins Lot gebracht werden möchte. Sie zeigen uns unseren Weg, dass, was wir wirklich nun leben möchten und helfen uns treu auf unserem Weg zu bleiben und uns nicht zu verbiegen. Ich danke dir für diese Sicht auf das Thema Gefühle und ich stimme dir in allen Punkten überein. Ich habe mich lange auch mit diesem Thema und insgesamt dem Thema Bewertung auseinandergesetzt. Es ist allgegenwertig. Und ich weiß für mich: Es gibt nur noch Wetter! Denn egal ob die Sonne scheint oder ob es regnet, beides braucht die Erde, um zu leben. Und genauso wie du es beschreibst, jedes Gefühl hat seine ganz eigene wichtige Funktion und wir sollten alles was in uns war, ist und sein wird zu schätzen wissen. Denn gerade durch Gefühle können wir soooo viel lernen. Ich mochte es damals nicht glauben, ich lies mich komplett von den „negativen“ leiten, so definierte ich sie. Und dann hörte ich hin und war überrascht, was sich dahinter alles verbarg, was teilweise auch gar nicht zu mir passte und mit Wertschätzung und Geduld sah ich es an. Es ist genau wie du beschreibst. Die Geschichte, die uns jedes Gefühl erzählt. Und ich bin unglaublich dankbar für jede einzelne.
Und ich danke dir sehr, dass du diesen Artikel verfasst hast, der aufzeigt, welche Bedeutung Gefühle für unser Leben haben und ich wünsche mir sehr, dass er viele Menschen erreicht, zum denken anregt und ins „Handeln“ führt. Alles da sein zu lassen, was da sein will und es wertzuschätzen. Dass das nicht einfach ist, weiß ich aus eigener Erfahrung, aber es lohnt sich, denn jedes Gefühl will ge(h)-fühlt werden, dazu sind sie da und jedes Gefühl hat Berechtigung. Oder ignorieren wir unsere Kinder, wenn sie unsere Aufmerksamkeit haben wollen oder schließen sie weg? Wohl kaum. Drum sollten wir auch nicht versuchen unsere Gefühl wegzuschließen oder weg haben zu wollen. WEGWEISER finde ich auch einen total schönen Begriff. Ich darf mich jeden Tag im nicht bewerten üben, mit meinen Gefühlen werde ich da noch in einem langen Prozess sein, aber ich finde dein Artikel zeigt wie wichtig es ist, davon loszulassen. Das ist es mir Wert.
Herzliche Grüße
Jenny
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