Lass uns gleich zu Beginn gnadenlos ehrlich sein, in Ordnung? Wir beide können nicht leugnen, dass Psychotherapie ein schambehaftetes Thema ist. Wer gibt sich schon freiwillig die Blöße und geht zur ambulanten Psychotherapie? Über eine stationäre Behandlung brauchen wir noch gar nicht zu sprechen… Wer zeigt sich freiwillig einem fremden Menschen von seiner schwachen, verletzlichen oder kaputten Seite? Und wer nimmt schon freiwillig all die gesellschaftlichen Stigmatisierungen und Vorurteile auf sich? In diesem Beitrag biete ich dir die Chance, in das Leben und die Gedanken von Menschen einzutauchen, die Erfahrungen mit einer stationären Behandlung gemacht haben. Diese Patienten erzählen dir, was in ihnen in all den Jahren und in ihrem Leben vor einer stationären Behandlung vorging. Sie lassen dich an ihrem Leidensweg teilhaben.
Alles, was du liest, sind reale Erfahrungen realer Menschen. Sie waren eins Patienten. Ich durfte ihre Geschichten dokumentieren. Der folgende Text ist absichtlich in der Wir-Form geschrieben. Mit dem WIR möchte ich ein Statement setzen:
Du, ich und so viele andere Menschen auch, WIR dürfen nicht vergessen, dass es verdammt vielen Menschen „da draußen“ nicht gut geht. Psychische Probleme, genauso wie körperliche Probleme, sind kein Ausnahmezustand und schon gar kein Sonderfall! Jeder Mensch macht mindestens ein Mal in seinem Leben die Erfahrung mit gewissen psychischen Problemen – ob kurzfristig oder über lange Zeit hinweg. Ob durch einen schlimmen Verlust oder zu viel Belastung auf der Arbeit… Psychisches Wohlbefinden, genauso wie körperliches Wohlbefinden, sind keine Selbstverständlichkeit und wir dürfen lernen mit mehr Toleranz darüber zu sprechen!
Inhaltsverzeichnis
Wir sind die Durchhaltementalität
Wir wachsen damit auf uns nicht so anzustellen, uns zusammen zu reißen und sich durchzubeißen. Schon durch die Schule beißen wir uns durch. Dann durch die Ausbildung. Dann durch den Berufsstress. Und dabei beißen wir uns auch durch all die sozialen Spielchen, die mit uns getrieben werden.
Scham, Ängste und all die Vorurteile und Bewertungen um uns und in uns sorgen dafür, dass unsere Durchhaltementalität noch stärker wird.
Wir versuchen ein „normales“ Leben zu fühlen. Und nach außen hin lassen wir niemanden daran teilhaben, was wir im Inneren tatsächlich fühlen.
Vielleicht sieht dein Leben so aus: Es gibt eine gewisse Dunkelheit in dir, die dir Kummer, schlaflose Nächte oder besonders viel Stress bereitet. Diese Dunkelheit wird zu deiner Privatsache. So gut es geht, beißt du dich durch den Alltag durch und versuchst trotz der kraftraubenden Dunkelheit stark zu bleiben. Du versuchst durchzuhalten und täglich gibst du damit dein Möglichstes. So geht es auch uns. Wir geben täglich unser Bestes und versuchen all den Erwartungen zu entsprechen.
Wir leben unser Leben, um gut genug zu sein.
Unser Leben mit einer Fassade
Bevor wir auch nur einen Gedanken an Psychotherapie verschwenden, versuchen wir unsere Probleme lieber alleine zu lösen. Irgendwie. Hauptsache es funktioniert. Hauptsache wir fühlen uns zumindest für kurze Zeit etwas entlastet. Und in der restlichen Zeit unseres Alltages halten wir weiter durch und funktionieren.
Während dessen werden wir älter und unser Verantwortungsbereich und Verpflichtungsgefühl werden immer größer. Gegenüber unserer Familie, unseren Freunden, Kollegen oder unserem Arbeitgeber. Wir möchten niemanden im Stich lassen. Niemanden enttäuschen. Niemanden verletzen oder durch unser „egoistisches“ Handeln jemandem schaden.
Wir möchten lieber „wichtig“ bleiben, „ganz“ wirken und weiterleben, als gebe es nichts in uns, das uns von innen heraus auffrisst. Und wenn wir ganz ehrlich sind, haben wir Angst selbst im Stich gelassen zu werden. Selbst enttäuscht zu werden. Und selbst verletzt zu werden.
Also lernen wir eine Fassade aufzusetzen, um anderen Menschen „Normalität“ vorzuleben. So gut es geht, versuchen wir um Außen ein normales Leben aufrechtzuerhalten.
Wir werden Meister darin den Schein zu wahren.
Doch je länger wir die Fassade wahren, desto schwieriger wird es, unser „falsches Spiel“ aufzudecken. Desto schwieriger wird es, ehrlich zu zeigen, was mit uns los ist. Wie es uns wirklich wirklich geht. Umso größer wird die Hürde uns jemandem anzuvertrauen und uns verletzlich zu zeigen.
Dass unsere Fassade dazu beiträgt, dass wir gänzlich vergessen, wer wir sind und was in uns steckt, das lernen wir erst sehr viel später…
Angst steuert unsere Entscheidungen
Wer soll uns schon glauben, wenn unser Leben all die Jahre so normal wirkte? Wenn wir so lange durchgehalten haben und so lange stark geblieben sind?
Im Laufe der Zeit infizieren wir uns mit Angst.
Wie wird über uns geurteilt, wenn wir erst sagen, dass wir nicht mehr weiter können?
Wir fürchten uns vor Reaktionen wie:
„Stell dich doch nicht so an. Jeder hat doch mal eine schwierige Phase.“
„Du musst einfach nur wieder rausgehen und Spaß haben.“
„Du musst einfach nur essen. Schmeckt doch alles!“
„Was dir passiert ist, ist doch schon Ewigkeiten her. Was hältst du dich heute noch daran auf? Du hast doch ein schönes Leben.“
„Von dir hätte ich so etwas aber nicht erwartet…“
– Solche Reaktion machen uns Angst. Wir möchten nicht noch mehr verletzt werden.
Wir verletzen uns doch täglich selbst, wenn wir uns mit unserer Fassade verleugnen.
Es gibt so viel Angst in uns, die unsere täglichen Entscheidungen steuert. Wir fürchten uns vor Ausgrenzung, Verurteilung und vor allem vor Verlust von Sicherheit, Anerkennung, Liebe und Zugehörigkeit. Wir fürchten uns vor Vereinsamung und der Bestätigung, dass wir versagt haben.
Es ist nicht so, dass Durchhalten und anderen ein falsches Leben vorgaukeln uns Freude macht. Wir sehen nur keinen besseren Ausweg, um akzeptiert zu bleiben. Und auch du kannst sicherlich nachvollziehen, wie hart es ist verurteilt, ausgegrenzt oder nicht mehr ernst genommen zu werden. Und davor haben wir Angst.
Wir greifen nach jedem Strohhalm
Eines können wir dir sagen: Der Mensch ist unglaublich leidensfähig. Es ist der Wahnsinn, wie viel wir ertragen, verdrängen oder weglächeln können. Das kann über viele Jahre so gehen.
Doch je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es Probleme und Belastungen wegzudrücken. Sie fressen Zeit und sie rauben uns unsere Kraft. Sie kosten uns unser Seelenheil und sie erschweren uns das Atmen.
Wir möchten nicht aufgeben, nicht versagen und wir möchten uns keine Blöße geben. Doch die Probleme scheinen sich ab einem Zeitpunkt weiter auszubreiten und immer mehr Lebensenergie zu ziehen.
Seelischer Schmerz ist wie ein Virus. Es frisst dich von innen her auf. Was bleibt, ist eine leere Hülle.
Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, Schmerz und Verzweiflung werden zu unseren täglichen Begleitern.
Irgendwann kommen wir an einen Punkt, da wenden wir uns an den ein oder anderen Arzt. Du kennst sicherlich selbst die beliebteste Ein-Minuten-Diagnose: Stress.
„Sie haben zu viel Stress.“ ist der Satz, den wir echt oft hören.
Und du kannst dir selbst die Frage beantworten, ob man sich mit dieser Erklärung wirklich verstanden und gesehen fühlt.
Es kommt eine Testphase mit Medikamenten, doch das hilft nur wenig weiter. Irgendwann lassen wie uns krankschreiben. Doch auch das bringt nicht die erhoffte Erleichterung. Und so bleiben wie vor der Frage stehen: „Was soll ich tun?“
Vielleicht finden wir Vertraute aus unserem Umfeld, mit denen wir sprechen können. Aber über das komplette Ausmaß sprechen wir oft trotzdem nicht. Wir erzählen von unseren Problemen und sind dankbar, dass uns zugehört wird. Doch wir merken, dass es trotzdem nicht ausreicht. Wir sind schon lange an einem Punkt angekommen, dass wir in einem düsteren Sumpf stecken. Und so viele Strohhalme wir greifen, keiner ist stark genug, um aus dem Sumpf heraus zu kommen.
Das ist der Zeitpunkt, an dem wir beginnen an die Vorteile einer ambulanten Psychotherapie oder sogar an eine stationäre Behandlung zu denken.
Wie Küchenpsychologen uns therapieren
Wenn wir an unsere Kinder denken, bricht es uns das Herz. Wie können wir es nur wagen keine guten Väter oder Mütter zu sein? Wie können wir es wagen nur daran zu denken nicht mehr alles für unsere Familien zu geben? Geben wir für unsere Kinder nicht unseren letzten Atemzug, Hauptsache ihnen geht es gut und sie kriegen von all unserem Schmerz nichts mit?
Wir möchten unseren Familien ein gutes Gefühl geben und wir möchten diesen lieben Menschen Hoffnung machen. Hoffnung auf ein gutes Leben. Hoffnung, dass es uns schon gut gehen wird, dass es wieder besser wird. Denn eines muss man sagen:
Früher oder später merken andere Menschen, dass mit dir etwas nicht stimmt. Dass dich eine Dunkelheit von innen auffrisst und du dir selbst schadest. Dass du leidest. Und vor allem merken sie, dass du eine Fassade trägst. Nicht alle dieser Menschen sprechen dich darauf an. Aber manche tun es. Manche tun damit das Richtige und Notwendige und können dir helfen. Und dann gibt es noch die Küchenpsychologen…
Die Küchenpsychologen geben uns Tipps. Sie erteilen uns Ratschläge. Und ab und an setzen sie uns unter Druck und wollen, dass wir „aktiv“ werden und „was verändern“. Sie analysieren uns und geben uns das Gefühl unsere Probleme bis auf den Grund durchschaut zu haben. Sie kennen Ursachen und Wirkungen und wissen ganz genau, was zu tun ist, um uns zu helfen. Schließlich haben sie irgendwo einen Artikel gelesen oder kennen jemanden, der jemanden kennt, der … du weißt schon…
Sie sagen uns:
„So kann es nicht mit dir weiter gehen.“
„Du gefährdest das Wohl der ganzen Familie und du setzt deine Beziehung aufs Spiel.“
„Pass auf, dass du auf der Arbeit nicht negativ auffällst, sonst wirst du noch gekündigt.“
Dabei meinen auch sie es bestimmt nur gut mit uns. Auch sie sind am Ende einfach nur hilflos und wissen mit ihrer Hilflosigkeit nicht anders umzugehen. Oder sie wollen nur davon ablenken, dass auch ihre eigene innere Dunkelheit sie auffrisst…
Erst später, erst durch unseren steinigen Weg, lernen wir den Spruch zu schätzen:
Kehr erstmal vor deiner eigenen Haustür.
So schräg das klingt, aber wir lernen das in unserer stationären Behandlung. Da erst merken wir, wie einfach es ist ein guter Küchenpsychologe zu sein, aber wie schwer es ist das eigene Leben im Griff zu haben.
Was ist der Sinn des Lebens?
Irgendwann landet die Mehrheit von uns an einem Punkt, an dem das Leben sinnlos erscheint. Wozu sind wir hier? Warum müssen wir all das machen, was wir machen? Wozu ist das gut? Was ist unsere Aufgabe hier?
Die Dunkelheit in uns scheint die Kontrolle in unserem Leben übernommen zu haben. Es gibt nichts anderes, was uns bleibt, als eine Mauer an Strategien um diese Dunkelheit zu bauen. Strategien, um ihre Düsternis einzudämmen und weiterhin lebensfähig zu bleiben.
Wir sind ein Häufchen Elend, das sich gerne unsichtbar machen würde. Doch stattdessen wagen wir den Schritt und rufen Therapeuten an. In der Hoffnung, dass jemand uns aufnehmen und behandeln kann. Dass jemand uns nicht für hoffnungslose Fälle hält, sondern uns den Weg in ein besseres leben weist.
Doch weißt du, was die Realität ist?
Die Realität ist, dass wir bis dahin eine Karriere aus Leid, Schmerz, Kummer und innerer Einsamkeit hinter uns haben.
Wir haben kaum noch Kraft für Belanglosigkeiten des Alltages und wir haben auch keine Kraft mehr zum Durchhalten, Funktionieren oder sich rechtfertigen. Wie sollen wir da noch 19 Wochen auf den Beginn unserer Psychotherapie warten?
Unser Weg in die stationäre Behandlung
Wenn jeder einzelne Tag qualvoll an dir vorbeizieht, bist du dann noch willens 19 Tage auf den Beginn einer ambulanten Therapie zu warten, von der du nicht mal weißt, ob sie dir was bringt?
Diese Frage muss sich jeder von uns beantworten.
Und so entscheiden sich viele von uns sich all den Ängsten, Stigmata, all den Versagensgefühlen, der Scham und der Schuldgefühle zu stellen und eine stationäre Behandlung vorzuziehen. Irgendwann kommen wir an den Punkt, da sieht unser Leben vor einer stationären Behandlung einfach viel schlimmer aus, als all dieser Gefühle und Gedanken.
Der Weg in die stationäre Therapie ist wahrlich kein Zuckerschlecken!
Allein der Gedanke daran und all die Gefühle, die damit hochkommen, kosten viel Kraft.
Es ist keine leichtfertige Entscheidung und auch kein schneller Prozess.
Doch so vielen von uns hat es das Leben gerettet. Und so vielen von uns hat eine stationäre Behandlung ein neues Leben ermöglicht.
Worum wir dich bitten
Kehr vor deiner eigenen Haustür und warte nicht bis zur völligen Verzweiflung, um dir Hilfe zu holen.
Wir können dir versichern, dass es nichts mit „bloßstellen“ zu tun hat, sondern damit dein Leben wieder in geregelte Bahnen zu leiten.
Wir sind Hunderttausende. Du bist nicht allein!
In diesem Beitrag siehst du Bilder von @Annie Spratt, @Max LaRochelle, @Nathan Dumlao, @Karl JK Hedin und @Jordon Conner von Unsplash.
4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Hallo. Aus eigener Erfahrung, seit 2004 schon 5 mal in einer Klinik gewesen., kann ich nur zustimmen. Bin von Anfang an, offen damit umgegangen. Bin jetzt 56 Jahre, bin mit meiner Offenheit bis heute, auf Ablehnung gestoßen. Bei, der Arbeit , bei Freunden und ganz schlimm in, der eigenen Familie! Dort wo , das Elend meistens beginnt . Liebe Grüße Sylvia ❤️
Liebe Sylvia,
Erfahrungen wie deine machen mich oft nachdenklich und traurig. Wir leben in so einer aufgeklärten, modernen Welt. Alles wird für sooo selbstverständlich gehalten und wir schreien nach Toleranz und Akzeptanz. Und doch, wenn es um psychisches Leid geht, denken leider noch zu viele in veralteten Mustern. Vorurteile und Stigmatisierung warten privat wie beruflich. Schade…
Es wird noch einiges an Zeit brauchen und viele Menschen wie DICH, damit sich unsere Gesellschaft verändert. Deswegen danke ich dir sehr, dass du offen mit deinen Themen umgehst, dass du zu dir stehst und deinen Weg gehst!
Alles Gute und Liebe für dich,
Tatjana
Hallo, ich befinde mich gerade auf dem langen Weg zwischen Empfehlung meiner Therapeutin zur stationären Therapie und meiner endgültigen Annahme dessen. Natürlich wird dies erschwert, es gibt zu wenig Ansprechpartner zur Überwindung der finanziellen Berge bei drohender Aussteuerung.
Danke dir für deine sehr wichtigen Beiträge. Liebe Grüße Kerstin
Liebe Kerstin,
bitte entschuldige die späte Freischaltung deines Kommentars. Wegen eines Umzugs gab es eine Blog-Pause. Jetzt geht es hier wieder aktiv weiter.
Vielen Dank für deinen Kommentar und das Teilen deiner Situation mit mir. Ich finde es gut, wenn ambulante Psychotherapeuten Empfehlungen für eine stationäre Therapie ausstellen (v.a. wenn diese Empfehlungen Sinn machen 🙂 ). Und ich freue mich, dass du Ihrer Empfehlung nachgegangen bist und dich für eine stationäre Therapie entschieden hast. Hast du inzwischen eine Annahme erhalten?
Was genau meinst du mit Überwindung der finanziellen Berge? Hierzu fällt mir einiges ein:
– Absicherung der eigenen finanziellen Situation, wenn z.B. Krankengeld nicht ausreicht
– Der Anspruch aus Krankengeld endet und es stehen wenige Hilfsangebote oder Rücklagen zur Verfügung
– Befürchtung einer Kündigung wegen langer Krankheitsdauer und Abwesenheit im Beruf
– Überlastung der Partnerschaft, wenn die finanzielle Last von einer Person getragen werden muss
Hast du inzwischen einen Ansprechpartner für deine finanziellen Sorgen finden können? Ich hoffe deine Situation entwickelt sich zum Besseren!
Alles Gute für dich,
Tatjana