Ist Till Lindemann mit seinem Statement über Psychotherapie zu weit gegangen? Oder wie kann man es verstehen, was Till Lindemann über Psychotherapie sagt?
Auf meinem Twitter-Account habe ich gefragt: Was haltet ihr von dem, was Till Lindemann über #Psychotherapie zu sagen hat? Es kamen viele bunte Meinungen zusammen. Danke an dieser Stelle dafür! 😉 Insgesamt waren sich alle einig: Cool war das nicht.
Medial wird der gute Mann hart kritisiert. Doch was ist an seinen Worten wirklich dran? Und wie übel müssen wir es ihm nehmen? Als Psychologin stehe ich „auf der anderen Seite“. Mein Statement zu seinen Worten findest du nun hier:
Inhaltsverzeichnis
Till Lindemann über „Selbst“therapie
Im Playboy erschien vor einiger Zeit ein Interview mit Frontmann von Rammstein Till Lindemann und Joey Kelly. Das komplette Interview findest du unter: Till Lindemann und Joey Kelly im Interview. Darin ging es hauptsächlich um ihre Freundschaft und irgendwann kippte das Gespräch kurz in Richtung Psychotherapie. Hier der Ausschnitt:
Reporter: Herr Lindemann, in welchen Momenten finden Sie zu sich?
Lindemann: Wenn ich mir ein Weinchen aufmache, jage und angle. Ich glaube ganz fest daran, dass man sich selber therapieren kann. Mit urtümlichen, archaischen Mitteln. Ich gehe raus in die Natur, an den See und halte mit mir selber Zwiesprache.
Soweit so gut. Dem ist erstmal nichts Negatives abzugewinnen. Da hat der Lindemann vor allem nicht unrecht. Urtümliche Mittel als „Therapiemöglichkeit“ funktionieren vor allem bei Männern gut. Das zeigen auch verschiedene Untersuchungen. Vermutlich weil diese Mittel bei Männern (vermeintlich) helfen Steifheit, Verbissenheit, chronischen Stress und Frustration abzubauen.
Ich versuche es „evolutionsbiologisch“ und simpel zu erklären:
Stell dir vor, du packst ein starkes Tier (den Mann) in einen Käfig.
Ein Tier mit unbändiger Kraft, viel Potenzial, Ehrgeiz, Freiheitsdrang und ab und an kindlichem Gemüt. Der Käfig heißt dann: „Gehorche dem System, muck nicht zu doll auf, trag am besten Krawatte, aber bitte nicht so homo… und ach ja… wehe du bist sexistisch oder ein Weichei. Du Lusche. Sei ein Mann! Stell dich nicht so an. Aber wehe du bist nicht metrosexuell genug… aber wehe du bist zu viel davon.“
Stell dir vor, dieser Käfig-Zustand hält über Generationen und Jahrzehnte an. Was passiert mit diesem Tier? (Sorry liebe Frauen & Männer, dass ich so frech bin das Tier im Manne anzusprechen…aber so lässt sich wohl am besten erklären, warum Lindemann von urtümlich und archaisch spricht.)
Dieses Tier, dieses starke kraftvolle Wesen im Mann, der Krieger, geht langsam aber sicher in diesem Käfig zugrunde. Es passt sich an, um gesellschaftskonform zu werden. Und es fügt sich. Es will gefallen und geliebt werden. Aber ein Teil in diesem Wesen verblasst, wird kraftlos und stirbt langsam ab.
So lässt sich die Aussage von Lindemann hoffentlich etwas besser verstehen. An dieser Stelle entwertet er nicht das Therapiekonzept. Er spricht nur von sich und seinen Erfahrungen.
Auch wenn ich ihn nicht kenne, würde ich einschätzen, dass er sich selbst als „ganzen Kerl“ beschreiben würde. Als den urtümlichen, archaischen Mann. (Und das merkt man auch seiner Musik an.) Deswegen kann ich mir gut vorstellen, dass er sich nicht als der Typ „für die Couch“ sieht. Er würde vielleicht sowas sagen: „Ich bei einer Psychotherapie wäre wie ein Bär bei einem Kaffee-Kränzchen.“
Till Lindemann über Psychotherapie
Ich glaube, nach seiner Antwort wollte der Reporter spaßeshalber den Rammstein-Sänger zur Psychotherapie ausfragen.
Reporter: Till Lindemann würde man also nicht beim Therapeuten finden?
Lindemann: Ich persönlich glaube, das ist oft rausgeschmissenes Geld für Luxusprobleme. Ich habe noch niemanden erlebt, dem es dadurch besser gegangen ist. Ich kenne Leute, die aus einer Therapie zurückgekommen sind und für mich nicht mehr einzuordnen waren, die waren nicht mehr so, wie ich sie kannte. Ich finde es schwer zu ertragen, wie sich diese Menschen verändert haben.
Reporter: Inwiefern?
Lindemann: Da wird einer zum Egomanen oder Egozentriker. Weil ihm so ein Therapeut erzählt hat, er sei auch etwas Besonderes. Gerade wenn du in einer Gruppe bist wie in einer Band: Sobald da fünf Leute sagen, das ist scheiße, was du da machst, und du willst als Einzelner deine Meinung durchdrücken, dann verlässt du die Demokratie und den Kollektivgeist. Dann funktioniert es nicht mehr. So viel dazu. Wir könnten jetzt ewig reden, wenn es um diesen Therapeutenkram geht.
Ups… da hat Lindemann den Vogel abgeschossen oder?
Da hat ihn der Reporter auf dem kalten Fuß erwischt. Ich glaube, Till Lindemann sprach hier komplett unvorbereitet und ungefiltert. Ob das so schlau war? Wer weiß…
Aber wie schlimm sind seine Worte wirklich? Hat es dich getroffen, verletzt oder wütend gemacht, was er gesagt hat? Oder tangiert es dich peripher, weil du auf die Meinung eines einzelnen nicht so viel Wert legst?
Was interpretierst du in seine Aussagen hinein?
Lass uns mal kurz Tacheles reden: Egal, was er gesagt hat und wie er es wirklich gemeint hat – wir interpretieren eh irgendwas hinein. Wir bewerten und kategorisieren.
Statement von einer Psychologin
Ich interpretiere nichts Schlimmes in seine Aussage. Für mich gilt: Er spricht nur aus seiner persönlichen Sichtweise. Und aus seinen (begrenzten) Erfahrungen. Damit will ich ihn nicht in Schutz nehmen oder rechtfertigen. Aber die Härte seiner Worte etwas entkräften:
1. Psychotherapie ist kein rausgeschmissenes Geld. Wenn es um rausgeschmissenes Geld geht, müssen wir dringend über Coaching als perfides Geschäft sprechen!
2. Jaaaa… es gibt auch Menschen, die wegen „Luxusproblemen“ in Therapie sind. Aber was genau sind „Luxusprobleme“? Das ist Ansichtssache. Ich verrate dir ein Geheimnis: Auch Psychotherapeuten unter sich sprechen schon mal so: „Mein Patient ist wegen XYZ bei mir. Das sind Luxusprobleme… deswegen würde ich nicht in Therapie…“ Aber diese Therapeuten würden es nicht öffentlich zugeben.
3. Lindemann hat noch keinen erlebt, dem Psychotherapie wirklich geholfen hat? Kann sein, dass er fünf Personen kennt, die in Therapie waren? Seine Stichprobe kann also gar nicht so groß sein, dass seine Aussage irgendeine Relevanz hätte.
Ich schwinge nun doch die Psychologen-Keule: Wir sprechen hier von Psychotherapie. Nicht von Homöopathie. Es gibt so viele stichhaltige Untersuchungen zur Wirksamkeit von Psychotherapie, dass wir eines ganz sicher sagen können: Psychotherapie wirkt! Wissenschaftlich untersucht und gut belegt! ABER eben auch nur unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen! Wenn diese nicht gegeben sind, kann eine Therapie auch wirkungslos bleiben…
4. Ja, Menschen verändern sich durch Psychotherapie. Seelische Mülleimer können sich plötzlich besser abgrenzen. Ausgebrannte Häufchen Elend kriegen wieder Drive. Everybody’s Darlings beenden plötzlich ein paar toxische Beziehungen. Usw. Till Lindemann spricht hier von nichts anderem, als den Nebenwirkungen einer Therapie. Und diese beziehen sich niemals nur auf die Patienten, sondern auch auf deren gesamtes Umfeld. Das kann für das Umfeld tatsächlich schwer nachvollziehbar sein, warum sich jemand plötzlich so verändert.
5. „Da wird einer zum Egomanen oder Egozentriker.“ – das nehme ich Lindemann nun doch übel. Ich glaube, hier spricht jemand, der für Psychotherapie, aber auch für Leid von Menschen, die in Therapie sind, wenig Verständnis hat. Hier spricht jemand unreflektiert über ein Thema. Und (jetzt interpretiere ich) hier verrät er mehr über sich, als über andere.
Lindemann spricht ein Vorurteil an, das in unserer Gesellschaft tief verwurzelt ist: „Zum Therapeuten gehen doch nur Egoisten und Schwächlinge.“ Psychotherapie und Egoismus oder Egomanie haben nichts gemeinsam! Solange unsere Gesellschaft das nicht begreift, wird es viele Tills geben, die so denken. Er spricht also letztlich nur ein Problem des Systems an. Ein Problem, das in Köpfen vieler Menschen steckt.
Negative Publicity ist auch Publicity
Eines hat Till Lindemann durch sein Statement erreicht:
Ein unspektakuläres und langweiliges Interview hat damals für viel Aufsehen gesorgt. Till Lindemann polarisiert. Und das nicht nur durch seine Musik. Sondern auch durch seine Ansichten und seine Wirkung auf Menschen. Damit ist er Gesprächsthema und kriegt Aufmerksamkeit. Und für einen Menschen im Rampenlicht ist das bestes Marketing.
Till Lindemann kommt aus einer Parallelwelt.
Er steht vermutlich nicht um 7.00 Uhr morgens auf, fährt gestresst mit S-Bahn zur Arbeit, ordnet sich einem Chef unter, macht ein bisschen auf Arschkriecher und Everybody‘s Darling. Er wartet nicht zum Monatsende auf Gehalt, um seine Rechnungen zu begleichen. Vermutlich muss er sich auch nicht 28 Tage Urlaub im Jahr weise einteilen. Und er macht sich vermutlich auch keine Gedanken um seine Rente. Vermutlich. Wissen tun wir es nicht.
Er lebt ein anderes Leben. Dieses Leben formt seine Ansichten.
Das ist gar nicht abwertend gemeint. Er lebt ein Leben, das sich mit dem Leben des „Normalbürgers“ nicht vergleichen lässt. Deswegen hat es keinen Sinn seine subjektive Meinung persönlich zu nehmen.
Zudem war das Interview gar nicht auf das Thema „Psychotherapie“ ausgelegt. Er sagt auch selbst, er könne noch ewig über das Thema sprechen. Aber dafür war der Rahmen nicht gedacht. Und so kam unreflektierte Grütze raus, die er an anderer Stelle eventuell etwas anders formuliert hätte.
Wer weiß das schon…
Lassen wir es so stehen: Er spricht für sich. Er zeigt nur eine subjektive Meinung. Ein bisschen mehr Aufklärung über Psychotherapie würde auch einem Till Lindemann gut tun.
Wichtig ist: Bilde dir deine eigene reflektierte Meinung und lass die Tills dieser Welt quatschen! 😉
Ich danke dir für deine Zeit und Aufmerksamkeit,
Tatjana
Du siehst hier Fotos von @Free-Photos und @Mainzer von Pixabay.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Das ist jetzt nun natürlich alles schon etwas länger her, aber ich finde den Artikel großartig geschrieben. Er wertet weder Till Lindemann ab (noch auf!), noch wertet er diejenigen ab, die eben die Aussage als das sehen, was es ist: unreflektierte Grütze Und das ist es leider wirklich. Ich hätte Till Lindemann in dem Moment auch mehr in der Richtung verortet, dass er zu dem Thema sagt „Jeder, wie er mag“. Ist ja auch – wenn es auch nur Rammstein betrifft – das Motto vieler seiner Songs. Ich finde in diesem Artikel gut, dass man seine Aussage über Psychotherapie nicht verharmlost und sich kritisch damit auseinandersetzt (was leider viele eingefleischte Lindemann-Fans nicht mehr hinkriegen). Ich bin auch ein Rammstein Fan, Rammstein war Teil meiner Jugend und es gibt eine Seite an Till Lindemann (vor allem das Künstlerische), die ich großartig finde. Trotzdem musste ich mich lange schon von dem Gedanken verabschieden, dass Till Lindemann die feingeistige Seele ist, für die ich ihn anfangs mit 16 gehalten habe (und ja… etwas verknallt war ich damals auch in ihn ). Mittlerweile bin ich knapp 30 und weiß einfach: jeder Mensch hat verschiedene Facetten und das Feingeistige ist da auch irgendwo. Aber eben nicht nur. Das tut weh, weil sich das Bild, dass ich am Anfang mit mir herumtrug, kaputt ist. Andererseits tut es mir noch mehr weh, wenn ich sehe, wie Fans von ihm nicht mal das kleinste bisschen Kritik an „ihrem Till“ dulden und Kritikern mangelndes Verständnis für einen Künstler oder Ignoranz vorwerfen und dann womöglich noch in die gleiche Kerbe hauen und ebenfalls Menschen herabsetzen, die einen Therapeuten besuchen. Menschen – auch und vor allem gerade Prominente – sollte man von ihrem Podest runterholen und sie als das sehen, was sie sind: Menschen. Und jeder Mensch kann mal unreflektierte Dinge sagen. Das kann man zugeben und trotzdem weiterhin Rammstein Fan sein.
So meine Meinung zu dem Thema.
Mit freundlichen Grüßen und danke für den Artikel
C.Ulbrich
Dabei hätte er eine Therapie dringend nötig, wie sich jetzt wohl rausstellt.
Hallo Frau Heidemann,
eine in meinen Augen gelungene Einordnung und ein weiterhin hoch aktuelles Thema.
Jede(r) mit Zweifel oder Vorbehalten gegenüber Psychotherapie könnte die ‚mildere‘ Variante der Selbsterfahrungsgruppe probieren. Ich bin mir sicher, für Herrn Lindemann und andere käme dabei sehr viel Selbsterkenntnis zu Tage. Die Gruppen die ich kennenlernen durfte, hätten ihm nichts durchgehen lassen.