Sorgst du dich um deinen gesundheitlichen Zustand, vor allem, weil du das Gefühl hast, in einer seelischen Krise zu stecken? Gibt es Beschwerden, die deinen Alltag schwerfällig und anstrengend machen? Erlebst du gewisse Warnzeichen, die psychischen Erkrankungen zugesprochen werden? Antriebslosigkeit und Kraftlosigkeit? Schlafstörungen? Interessenverlust und fehlende Freude? Hohe innere Anspannung? Intensive Gefühle von Traurigkeit oder Wut? Angstzustände? Schnelle Reizbarkeit? Oder sogar eine Art innere Leere? Fühlst du dich völlig erschöpft, ausgelaugt, unmotiviert oder sogar hoffnungslos? Ich könnte immer weiter fragen, doch der Punkt ist: Es ist gut und wichtig, dass du deine körperliche und seelische Verfassung ernst nimmst und dich mit deinen Beschwerden und Problemen auseinandersetzt. Womöglich hast du schon einen online Selbsttest durchgeführt. Wie sinnvoll, aussagekräftig und nützlich online Selbsttests sind und ob sie dir tatsächlich weiterhelfen, dem gehen wir in diesem Artikel nach!
Inhaltsverzeichnis
Zum Anlass sich testen zu lassen
Ein begründeter Anlass, sich testen zu lassen, besteht, wenn dir Verhaltensweisen, Denkweisen, Veränderungen der Wahrnehmung oder längerandauernde oder intensive Gefühlszustände auffallen, die dir Sorgen bereiten.
Ein weiterer Grund, sich testen zu lassen, besteht, wenn dich jemand anderes auf ein psychisches Problem aufmerksam macht (z.B. durch ein besorgtes Feedback) und du kannst dem in gewissen Zügen zustimmen. Das kann auch rein zufällig sein, wenn du z.B. im Internet recherchierst und dich in einer Beschreibung wiedererkennst.
Tatsächlich brauchst du keinen konkreten Anlass, um dich auf deine psychische Verfassung testen zu lassen. Deine Neugier reicht völlig aus. Du musst nur nach „Selbsttest für psychische Gesundheit“ googeln.
Genauso verhält es sich bei deiner somatischen Gesundheit. Auch dafür gibt es inzwischen viele kostenlose (und kostenpflichtige) Selbsttests, um z.B. dein Krebsrisiko, das Vorliegen von Geschlechtskrankheiten, das Risiko für Allergien oder Lebensmittelunverträglichkeiten oder deine Blutgruppe zu testen. Die Liste ist unendlich lang. Vor allem in den letzten Jahren, mit der Corona-Pandemie, ploppten Selbsttests jeder Art wie Pilze aus dem Boden.
Sich testen zu lassen liegt im Trend, könnte man sagen.
Was sind das für online Selbsttests für psychische Probleme?
Bei meiner Recherche bin ich auf eine Vielfalt an online Selbsttests gestoßen. Die meisten davon kostenfrei.
Die typischen Anbieter waren Krankenhäuser, therapeutische und über psychische Gesundheit informierende Internetseiten oder Unternehmen, die im psychologischen Bereich tätig sind.
Typische Aussagen für Selbsttests waren „wissenschaftlich fundiert“, „klinisch bestätigt“, „psychotherapeutisch verwendet“ oder (der Klassiker) „bester Selbsttest für…“.
Ich fand viele Selbsttests, bei denen wissenschaftlich geprüfte und offiziell anerkannte und zugelassene Fragebögen eingesetzt wurden. Meistens waren es aber nicht die kompletten Fragebögen, sondern nur Ausschnitte daraus.
Der Einsatz geprüfter Fragebögen hat den Vorteil, dass sie wirklich das messen, was sie messen sollen. In den meisten Fällen werden Symptome von psychischen Erkrankungen erfragt oder konkrete Hinweise auf eine negative Entwicklung der psychischen Gesundheit erhoben. (Wie zuverlässig die Ergebnisse sind, wenn nur Ausschnitte von Fragebögen benutzt werden, ist aber fraglich.)
Daneben gibt es natürlich auch „selbstkonzipierte“ Tests, bei denen z.B. auf diagnostisches Hintergrundwissen oder persönliche Erfahrungen zurückgegriffen wird. Diese Tests können auch gut sein, nur schwankt deren Zuverlässigkeit mit höherer Wahrscheinlichkeit. Sprich, selbstkonzipierte Tests müssen nicht unbedingt genau das messen, was sie „versprechen“.
Hier ein Beispiel: Für meine Diplomarbeit habe ich einen Fragebogen zur Wahrnehmung der eigenen psychischen Erkrankung selbst konzipiert. Um sicherzugehen, ob mein Fragebogen tatsächlich reliabel und valide misst, was er messen soll, musste ich aufwändig statistisch überprüfen. Erst dann konnte ich behaupten, dass der Fragebogen wirklich die klinische Information liefert, die ich erheben will. Und erst dann konnte ich ihn für die Zwecke meiner Diplomarbeit nutzen. Zuverlässigkeit und Qualität sind eben zentrale Marker in der klinischen Arbeit.
Mein Tipp für dich:
Wenn du dich für online Selbsttests interessierst, achte darauf, dass offiziell anerkannte Fragebögen eingesetzt werden. Das zeigt mindestens, dass sich jemand vernünftig mit dem Thema beschäftigt hat und die Beurteilung deiner Verfassung verantwortungsbewusster angehen möchte.
In meiner psychologischen Beratung setze ich gleich mehrere anerkannte Fragebögen ein, um wichtige Informationen über den Gesundheitszustand meiner Klient:innen einzuholen. Allein auf die Ergebnisse der Fragebögen verlasse ich mich trotzdem nicht. Aber dazu kommen wir gleich…
Sind online Selbsttests für psychische Probleme nun sinnvoll oder nicht?
Psychische Gesundheit ist ein sensibles und komplexes Thema. Der Grad zwischen akuter Belastung, chronischem Stress und klinisch relevantem Leidensdruck mit ernstzunehmenden Symptomen ist schmal.
Zu unterscheiden, ob jemand in einer persönlichen Krise steckt, mit einem sensiblen Thema kämpft oder bereits eine psychische Erkrankung entwickelt, ist kompliziert und gehört in verantwortungsbewusste und erfahrene Hände.
Vielleicht kennst du es von dir, dass du dich fragst, ob du einfach eine Selbstwertkrise hast oder unter einem Burn-Out leidest. Und wenn du keine Anlaufstelle hast, dann kann ein Selbsttest hilfreich sein.
Ich vertrete eine kritische Haltung sich im Internet auf die eigene psychische Verfassung testen zu lassen und bin der Meinung, dass wir Selbsttests nur mit Vorsicht genießen dürfen. Aber um fair zu bleiben, möchte ich zuerst auf die Vorteile der Selbsttestung eingehen.
Die sinnvolle Seite der online Selbsttest
- Selbsttests tragen dazu bei, dass wir ein Stückchen besser aufgeklärt werden, was überhaupt psychische Erkrankungen sind und woran wir sie erkennen. Sie haben einen gewissen edukativen und aufklärenden Aspekt.
- Selbsttest bewegen uns dazu, uns mehr mit unserer psychischen Gesundheit zu beschäftigen. Es ist wichtig und richtig eigene Belastungen und Probleme, sowie gewisse Symptome und Auffälligkeiten an sich nicht zu ignorieren oder zu verdrängen. Wir dürfen lernen, ein stärkeres Bewusstsein für unser Wohlbefinden zu leben. Selbsttests fördern eben dieses Bewusstsein sich selbst und die eigene psychische Verfassung ernst zu nehmen.
- Selbsttests liefern Hinweise darauf, ob ein klinisch relevantes Leiden vorliegen könnte und therapeutische Schritte ergriffen werden sollten. Sie liefern erste Hinweise darauf, in welche Richtung sich die Probleme entwickeln, z.B. ob es sich um eine depressive Symptomatik oder um Angstsymptomatik im klinischen Sinne handeln könnte. Das hilft gegen die Unsicherheit und die Sorge, wenn wir so gar nicht wissen, was mit uns los ist.
- Im besten Fall senken die Selbsttests die Hemmschwelle sich ärztlich oder therapeutisch untersuchen zu lassen und sich (rechtzeitig) Hilfe zu holen. Wir gehen auch nicht mehr völlig ideenlos irgendwohin, sondern bekommen eine Orientierung dafür, wo weitere fachliche Untersuchungen stattfinden sollten. Das spart Zeit.
In Summe dienen Selbsttest dem Aufbau eines Bewusstseins darüber, dass unser seelisches Wohl wichtig ist und wir uns rechtzeitig darum kümmern dürfen. (Unnötige) Verschlimmerungen hin zur Entwicklung ernster psychischer Krankheiten oder sogar deren Chronifizierung können so ein Stück weit verhindert werden, wenn wir lernen, rechtzeitig die nötigen Schritte zu ergreifen. Im Sinne der Prävention sind online Selbsttest also empfehlenswert!
Die weniger sinnvolle Seite der Selbsttestung im Internet
Nun habe ich erwähnt, dass ich Selbsttest nur mit Vorsicht empfehlen würde und das aus (wie ich finde) guten Gründen:
1. Selbsttests liefern lediglich oberflächliche Hinweise auf der Grundlage einer standardisierten Auswertung einer begrenzten Anzahl an Fragen. Selbst wenn es sich um wissenschaftlich geprüfte Fragebögen handelt, bilden sie niemals deine tatsächliche Situation ab, sondern fassen nur die erfragte Information in einer Beurteilung zusammen. Als klinisch fundierte und verlässliche Aussagen dürfen Selbsttests niemals gewertet werden.
Angenommen du machst einen wissenschaftlich fundierten Selbsttest mit 15 Fragen zu deiner psychischen Verfassung und kannst auf die Fragen nur mit „Ja“ oder „Nein“ antworten. Angenommen als Auswertung kommt heraus, dass bei dir eine depressive Episode oder eine Angststörung vermutet werden könnte. Dann solltest du diese Auswertung keinesfalls diagnostisch auffassen.
2. Zudem kommt, dass online Selbsttests nur bestimmte Zeiträume oder nur bestimmte Symptome erfragen. Was aber gar nicht berücksichtigt wird ist der Kontext deiner Geschichte, der Hintergrund deiner Beschwerden und Probleme. Deine Lebenssituation bleibt links liegen, obwohl sie entscheidend ist für eine fundierte und verlässliche Beurteilung deiner Verfassung. Mit einem Selbsttest lässt sich nicht klarstellen, ob es tatsächlich eine depressive Symptomatik ist oder du akut unter einer belastenden Situation deinen Antrieb, deine Freude und deinen Schlaf einbüßen musst, aber das kein Hinweis auf eine Depression ist. Gibt es z.B. eine depressive Symptomatik scheinbar ohne konkrete Ursachen oder leidest du gerade an Schlafmangel, Kraftlosigkeit und Appetitverlust und gleichzeitiger Gewichtszunahme, weil du dich seit Wochen um dein kleines Kind kümmerst und es gerade mit dem Zahnen kämpft? Ist klinisch (und diagnostisch) ein riesen Unterschied…
3. Die meisten Selbsttests bieten keine oder nur eine sehr kurze Anleitung. Hier ein Beispiel aus meinem Selbstversuch: Ich füllte einen Fragebogen zur Beurteilung des Vorliegens von Persönlichkeitsstörungen aus. Es waren Fragen mit „Ja-“, „Nein“-Antworten. Es gab keinerlei Anleitung. Dabei ist es extrem wichtig zu wissen, dass man für die Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen bei Erwachsenen einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren berücksichtigen muss. Tja… ich habs gewusst, weil ich erfahrene Diagnostikerin bin. Jemand anderes würde es nicht wissen und das wiederum beeinflusst die Antworten und verfälscht das Ergebnis!
Wenn eine vernünftige Anleitung fehlt, gibt es keinen Verlass darauf, dass die Antworten tatsächlich korrekt ausgewertet und verlässliche Aussagen in Bezug auf deine psychische Verfassung getroffen werden können. Die Ergebnisse können sogar fahrlässig verwirrend und falsch sein.
4. Selbsttests haben das Risiko zu schnell Warnsignale auszusenden. Damit meine ich, dass die Schwelle von unangenehmer Belastung hin zum klinischen Leiden relativ schnell überschritten wird. Auch das habe ich in meinem Selbstversuch erlebt und war ehrlich gesagt schockiert, wie schnell mir potenziell eine Depression, eine Angststörung und sogar eine posttraumatische Belastungsstörung als Ergebnisse geliefert wurden. Und das anhand von 15 oberflächlichen Fragen ist schier Wahnsinn und fahrlässig!
In der Regel fehlen den Selbsttests weitere wichtige Informationen zum Ergebnis. Was soll denn eine Lai:in mit dem Ergebnis anfangen? Man fühlt sich mit klinischen Ausdrücken bombardiert und zurückgelassen. Das kann Unsicherheit schüren, Ängste verstärken und Sorgen bereiten.
5. Online Selbsttests sind für jeden zugängig, das erhöht das Risiko eines Missbrauchs. Missbrauch betrifft die Häufigkeit der Testung und die Zielgruppen, die sich testen lassen können.
- Eine zu häufige Benutzung kann z.B. zur Verfälschung der Beantwortung der Fragen führen. Die Ergebnisse sind hier nicht mehr aussagekräftig.
- Kinder und Jugendliche können Selbsttests ausfüllen, obwohl die Fragen gar nicht für Kinder und Jugendliche konzipiert sind. Die Ergebnisse haben hier keine vernünftige Grundlage.
- Menschen mit ernstzunehmenden Krankheitsängsten können Selbsttest nutzen und erleben möglicherweise immer wieder eine (fälschliche) Bestätigung, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Krankheitsängste, Unsicherheit und Ohnmacht werden verstärkt. Aus „einer Mücke wird ein Elefant.“
Nutze online Selbsttests nur mit Vorsicht
Du kannst, wenn du neugierig bist, dich sofort auf eine depressive Verstimmung, auf eine Angststörung, auf deine Persönlichkeit, auf dein Essverhalten und weitere (klinische) Themen testen lassen. Doch behalte im Hinterkopf, dass niemals aussagekräftige und tatsächlich verlässliche klinische Aussagen im Hinblick auf deine psychische Verfassung getroffen werden.
Du bekommst nur oberflächliche Hinweise, die weder deine Lebenssituation noch weitere wichtige Information über deine Person berücksichtigen. Die Ergebnisse können falsch, irreführend und gefährlich sein. Die Ergebnisse können fehlinterpretiert werden, Unsicherheit wecken und viel Angst und Sorgen hinterlassen.
Es ist anschließend niemand für dich da, der sich deinen Fragebogen anschaut und professionell, fürsorglich und verantwortungsvoll mit dir die Ergebnisse bespricht. Ich selbst biete in meiner psychologischen Beratung die Beurteilung der psychischen Verfassung an. Natürlich nutze ich einen sehr(!) umfangreichen Fragebogen, aber ich arbeite auch sehr persönlich und berücksichtige die Komplexität der Lebensgeschichte und der Lebenssituation. Mit meiner Beurteilung folgen auch zahlreiche Empfehlungen, sodass keine meiner Klient:innen hilflos zurückbleiben muss.
Darum mein Fazit:
Finger weg von online Selbsttests, wenn du …
- … unter 18 Jahren bist und im Selbsttest nicht explizit „für Kinder und Jugendliche“ steht.
- … dich nicht gut abgrenzen kannst von Aussagen, die dich verunsichern würden.
- … bereits Krankheitsängste hast und dazu tendierst nach Krankheitssymptomen an dir zu suchen oder dich in Beschwerden und Symptome reinzusteigern.
- … nicht das Gefühl hast, dass vernünftig getestet wird. Wenn dir die Fragen und die Art des Test sehr oberflächlich vorkommen.
- … dazu neigst die Ergebnisse anzunehmen, ohne kritisch zu hinterfragen und wirklich nur als „Hinweise“ aufzufassen.
- … keine Ansprechperson hast, die professionell und fachlich mit dir die Ergebnisse besprechen kann.
Ich danke dir für deine Zeit und Aufmerksamkeit.
Tatjana
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