Der Weg in eine Psychotherapie ist für viele Hilfe-Suchende wie das Greifen nach dem letzten Strohhalm. Die Hoffnungen und Erwartungen an die Therapie und den Therapeuten sind entsprechend groß. Vor allem, dass der Psychotherapeut wirklich jemand ist, der einem helfen kann und will. Doch was ist mit den Erwartungen der Therapeuten? Auch sie erwarten. Und genau darum soll es hier gehen.
Ein Beispiel aus der Praxis
Starten wir mit einem realen(!) Beispiel, mit einem Dialog zwischen Therapeut und Patient. Der Patient leidet unter einer Angststörung und ist bei einem Verhaltenstherapeuten in Behandlung. In der Sitzung besprechen sie, warum der Patient sich nicht getraut hat eine Exposition an seinen Ängsten durchzuführen:
Therapeut: „Haben Sie die Aufgaben gemacht, die wir gemeinsam in der letzten Sitzung vereinbart haben?“ Patient:“ Nein, um ehrlich zu sein nicht. Ich meine, ich habe es versucht… Ich bin schon losmarschiert, aber am Ende konnte ich einfach nicht. Das hat mich überfordert.“ Therapeut: „Aber Sie wissen doch, dass das entscheidend ist für Ihren Therapieerfolg. Solange Sie nicht ins Tun kommen und sich konfrontieren, wird sich nichts verändern. Ihre Angst wird bleiben. Sollen wir gemeinsam nochmal die Angstkurve besprechen?“ Patient: „Das weiß ich auch, wirklich. Aber es ist so schwer. Ich habe da wirklich Schwierigkeiten damit.“ Therapeut: „Worin genau liegen denn Ihre Schwierigkeiten?“ Patient: „…. Das fällt mir jetzt wirklich schwer zu sagen. Das ist mir unangenehm.“ Therapeut: „In so einem Fall werde ich Ihnen aber leider nicht helfen können, wenn Sie es mir nicht erzählen mögen.“ Patient: „Ich kann nicht. Ich schäme mich zu sehr.“ Therapeut: „Wissen Sie, wir treten seit Wochen bereits auf derselben Stelle und es gibt kein Vorankommen. Da könnte der Eindruck entstehen, Sie wollen ihre Ängste gar nicht loswerden.“ |
Solche Worte vom Therapeuten hört kein Patient gerne oder? Fairerweise muss man sagen, solche Worte können absichtlich gewählt sein, um den Patienten aus der Reserve zu locken. Doch in manchen Fällen deuten solche Worte auf unausgesprochene Erwartungen der Therapeuten.
Die Erwartungen der Therapeuten
Patienten sollen sich einlassen auf die Behandlung.
Patienten sollen sich öffnen.
Sie sollen Vertrauen in ihre Therapeuten haben.
Patienten sollen dem Behandlungsplan ihrer Therapeuten folgen.
Patienten sollen sich bereit erklären für Veränderungen in ihrem Leben.
Sie sollen Experimente eingehen.
Patienten sollen sich selbst kritisch hinterfragen, sich selbst reflektieren und analysieren.
Patienten sollen sich konfrontieren mit dem, was für sie unerträglich scheint oder unglaubliche Angst auslöst.
Sie sollen ihren Sicherheitsbereich verlassen und sich auf ein neues Terrain begeben.
Patienten sollen sich einer Diagnostik unterstellen, aber nicht zu viele Fragen bezüglich ihrer Diagnosen stellen.
Natürlich passiert das alles nur zum Besten der Patienten und im besten Fall mit ihrem Einverständnis. Denn schließlich sind sie bei einem Fachmann oder einer Fachfrau gelandet. Doch leider bleiben diese Erwartungen oft ungeklärt. Vielmehr werden sie sogar zu Voraussetzungen einer Psychotherapie.
Ist das richtig?
Es ist nicht die Absicht dieses Artikels Therapeuten zu kritisieren oder gar anzugreifen. Sie geben sicherlich nach bestem Wissen und Gewissen ihr Möglichstes, um ihren Patienten zu helfen. Doch vergessen sie nicht in ihrem täglichen Tun sich in die Lage eines Patienten hinein zuversetzen? Wie es also ist ein Patient zu sein? Liegt ihr Fokus wirklich auf dem Wohl des Patienten oder auf dem Gelingen der Therapie? Oder geht es irgendwann eher um die Vorgehensweisen einer Methode, die laut statistischen Untersuchungen als bewehrt gilt?
Es lässt sich nicht leugnen: Therapeuten sind auch nur Menschen. Und Menschen neigen dazu (unbewusst) Erwartungen zu entwickeln, wenn sie mit anderen Menschen zusammen arbeiten.
Patienten müssen in der Therapie viel „sollen“
Wenn sich Menschen auf die Suche nach einem Therapeuten machen und eine Therapie beginnen, wird all das, was oben steht, von ihnen vorausgesetzt. Auch du, wenn du eine Therapie anstrebst, darfst damit rechnen, dass all das auf dich zukommt.
Als Patient gibt man diesen Erwartungen der Therapeuten meistens nach. Stillschweigend ist man einverstanden. Denn in einem System, in dem man durchschnittlich 19 Wochen auf einen Therapieplatz wartet, stellt man nicht mehr viele Fragen. Man ist froh, wenn das Warten ein Ende hat.
Und nicht umsonst heißt Psychotherapie auch die „Hilfe zur Selbsthilfe“. Wer Hilfe sucht, muss auch bereit sein, nicht nur diese Hilfe anzunehmen, sondern auch selbst aktiv etwas für die Verbesserung der eigenen Lage zu tun.
Wer im Therapie-Prozess stockt, zweifelt, sich nicht an Abmachungen hält, nicht mit der Geschwindigkeit des Therapeuten mitzieht, sich nicht offenbaren kann oder sich nicht an gut gemeinte Ratschläge des Therapeuten hält, gilt oft als was?
Noch nicht bereit?
Nicht motiviert genug?
Es fehlte das Verständnis?
Es gebe noch zu viele Ängste, zu viele Blockaden?
Oder wolle man gar nicht gesund werden?
Ansonsten heißt es auch, der Leidensdruck sei noch nicht groß genug, dieser Patient müsse noch eine Leidensrunde drehen. Der Patient schöpfe noch zu viele Vorteile aus seinem miserablen Zustand.
Klingt hart? Ist es auch! Und es ist leider wahr. Viele Patienten werden genau damit konfrontiert. Und auch wenn es durchaus Fälle gibt, wo so eine Konfrontation angemessen ist, ist braves Patient-Sein doch nicht selbstverständlich.
Es wird viel vorausgesetzt, aber zu wenig offen miteinander gesprochen
Manch ein Patient geht durch harte, aufwühlende, kräftezehrende Zeiten. Und das nicht nur oft jahrelang außerhalb der Therapie, sondern auch während der Therapie selbst. Nicht jeder Patient kann das durchhalten. Manche von ihnen ziehen sich für eine Weile aus dem Therapieprozess zurück oder brechen sogar die Therapie ganz ab.
Einer der Gründe ist die Therapeut-Patient-Beziehung, die oft nicht stimmt.
Ein anderer Grund liegt an der Geschwindigkeit der Therapie, die häufig nicht an die Situation, an die Bedürfnisse, die Ressourcen und Kapazitäten der Patienten angepasst wird.
Doch einer dieser Gründe liegt auch in der ungenügenden Aufklärung über das, was in der Therapie passieren wird. Über das, was auf Patienten zukommt und womit sie rechnen müssen. Über die Chancen, die Risiken, Nebenwirkungen und die Grenzen einer Therapie. Es liegt auch daran, dass Erwartungen der Therapeuten als vermeintliche „Voraussetzungen“ unausgesprochen und ungeklärt bleiben.
Dabei liegt es in der Kunst eines guten Therapeuten über den Therapieprozess, die therapeutische Rolle und über die Rolle des Patienten aufzuklären. Und zwar so, dass der Patient wirklich versteht, worauf er sich einlässt. Der beste Zeitpunkt dafür liegt im Kennenlerngespräch und spätestens in den gemeinsamen probatorischen Sitzungen.

Psychotherapie – im besten Fall ein geschützter Rahmen für Patienten
Therapie erfordert Mut und Bereitschaft und bedeutet Arbeit
Als Patient fühlt man sich oft hoffnungslos und kraftlos. Wer sonst begibt sich freiwillig in eine Psychotherapie, wenn nicht ein Mensch mit enormen Leidensdruck, Verzweiflung und tiefem Kummer.
Und so liegt es an den Therapeuten, ihren Patienten Mut zuzusprechen und ihre Bereitschaft zu stärken, den Veränderungsprozess in ihrem Befinden und Leben aktiv anzutreten. Es ist die Aufgabe der Therapeuten ihren Patienten Mut zu machen den Therapieprozess aktiv mitzugestalten. Sei es in der gemeinsamen Vereinbarung der Ziele oder der gemeinsamen Reflektion des Therapie-Prozesses. Dabei ist es enorm wichtig das Tempo an die Möglichkeiten der Patienten anzupassen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie als Mensch im Mittelpunkt stehen.
Selbst wenn all das, was Therapeuten mit ihren Patienten machen, absolut richtig wäre, so dürfen sie nicht davon ausgehen, dass es den Patienten genauso bewusst ist.
Es reicht also nicht, an ein schöneres Leben zu appellieren und zu versichern, dass dieses bessere Leben außerhalb der selbst erbauten Sicherheits- und Gewohnheitszone liegt.
Es liegt an den Therapeuten, ihre Patienten auf dem Weg zu begleiten. Therapeutische Vorstellungen von „Richtig“ oder „Falsch“, „Genügend“ oder „Ungenügend“ spielen dabei keine Rolle. Es geht um die Möglichkeiten jedes einzelnen Patienten.
Und schließlich sollte nichts selbstverständlich sein, auch nicht nach 20 Jahren therapeutischer Berufstätigkeit.
Menschen werden damit groß, zu MÜSSEN und zu SOLLEN
Wie oft führen unsere eigenen Überzeugungen und selbstauferlegten Verpflichtungen und Regeln zu einem Leben voller MÜSSEN und SOLLEN? Wie oft ist genau dieses rigide Bewertungs-, Erwartungs- und Verhaltenssystem dafür verantwortlich, dass wir uns weit weg bewegen von Zufriedenheit, Gelassenheit, Flexibilität, Wohlergehen und Gesundheit?
Es liegt in den Aufgaben der Therapie den Menschen die Augen zu öffnen, dass ein MUSS und SOLL einem Gefängnis gleicht.
Warum also müssen Patienten in der Therapie SOLLEN?
Dieses SOLLEN kann nicht mit wissenschaftlichen Belegen, mit bewehrten Manualen oder der Erfahrung der Therapeuten gerechtfertigt werden.
Vielmehr liegen die besten Chancen der Therapie darin, wenn Therapeuten ihren Patienten von einem MÜSSEN und SOLLEN zu einem WOLLEN und DÜRFEN bewegen.
Das ist kein Appell an Kuschel-Therapie mit Samthandschuhen. Doch es ist ein Denkanstoß am ein tieferes Verständnis für die Situation und die Rolle eines Patienten. Patient-Sein darf in der Therapie nicht zweitrangig werden.
Es ist ein Denkanstoß an mehr Wertschätzung und Menschlichkeit für die Menschen, die schließlich den Therapieberuf möglich machen, weil sie immer noch den Weg in die Psychotherapie suchen.
Erwartungen der Therapeuten: Wie du diesen Artikel für dich nutzen kannst
Wenn du kein Psychotherapeut bist… Wenn du dich entschlossen hast eine Psychotherapie zu beginnen. Oder dich bereits in einer Psychotherapie befindest und dich nicht immer sehr wohl fühlst dabei. Wenn du merkst, dass du deine Erfahrungen im Text wieder erkennst, dann überlege dir bitte Folgendes:
DU als Patient hast großes Mitspracherecht in deiner Therapie. Es ist eine Dienstleistung, die für DICH erbracht wird.
Überlege, was nötig ist und dir gut tun würde, damit du dich in deiner Therapie wohl fühlst.
Überlege, welche Fragen geklärt und welche gegenseitigen Erwartungen ausgesprochen gehören, um eine vertrauensvolle Therapeut-Patient-Beziehung aufzubauen.
Scheue dich nicht deine Fragen, Anliegen und Wünsche aktiv mit deinem (potenziellen) Therapeuten zu klären. Warte nicht darauf, bis dieser selbst auf die brillante Idee kommt und deine Fragen, Anliegen und Wünsche errät.
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