Reagierst auch du inzwischen frustriert, verärgert oder einfach nur genervt, wenn dir schon wieder jemand ans Herz legt, dich besser um dich zu kümmern? Und was denkst du, wenn du solche Titel im Internet liest: „10 Dinge, die du täglich tun solltest!“ Oder „Tu diese Übungen und dein Leben ändert sich.“? Bei all diesen Titeln geht es um das absolute Trendthema Selbstfürsorge. Aber was ist Selbstfürsorge wirklich? Und warum ist es so wichtig das zu wissen?
Ziel dieses Artikels ist es, dir eine bodenständige Sichtweise auf Selbstfürsorge zu zeigen. Ohne spirituellen Hokuspokus oder hochtrabend positives Blabla.
Denn eines kann ich dir sagen: Wenn du genervt von dem Thema bist – du bist nicht allein damit. Und wenn dir der Bezug zu dem Thema fehlt und du einfach nichts damit anfangen kannst – du bist nicht allein damit!
Inhaltsverzeichnis
Was ist deine erste Assoziation?
An was denkst du, wenn du das Wort Selbstfürsorge hörst? Was bedeutet es für dich? Hast du einen Bezug dazu? Oder noch persönlicher gefragt: Lebst du Selbstfürsorge aus?
Ist das so etwas wie: „Ich gönne mir am Abend ein Gläschen Wein, lege die Beine hoch und entspanne mich im Kerzenlicht“? Ist das ein: „Ich nehme meine Bedürfnisse ernst und achte auf meine Belastungsgrenzen“? Oder ist das ein: „Ich erschaffe mir tägliche Rituale, z.B. Morgenrituale und sorge so für mein Wohl“?
So viel verrate ich dir schon: Selbstfürsorge ist viel mehr als das.
Selbstfürsorge wurde zum Trendwort – ob das so gut ist?
Seit einigen Jahren gibt es eine Welle, die das Internet und den Buchhandel überrollt. Die Welle heißt „Persönlichkeitsentwicklung“. Seit „Persönlichkeitsentwicklung“ so ein BOOM ist, wird auf den Worten „Selbstfürsorge“, „Selbstwert“ und „Selbstliebe“ besonders gerne herumgeritten.
Warum Persönlichkeitsentwicklung wichtig ist, zeigt uns schließlich die positive Psychologie.
Doch als Psychologin beobachte ich folgende Tendenz:
Immer häufiger kriege ich mit, dass Menschen genervt mit den Augen rollen, wenn sie von Selbstfürsorge hören. Zum Beispiel wenn sie danach gefragt werden, was ihnen jetzt gut tun würde. Und wenn auch du dazu gehörst, würde es mich sehr interessieren, warum es dir so geht.
Ich glaube das Thema wurde breitgetreten. Was im Trend liegt, wird eben besonders gerne benutzt. Und so haben zu viele Autoren, Blogger, Youtuber und Coaches sich zu viel und zu einseitig mit dem Thema beschäftigt.
Ich vergleiche es mit einem Modetrend: Stell dir vor, Pullover aus Jeans-Stoff würden im Trend liegen. Du würdest in jedem Geschäft solche Pullover finden. Und dann würdest du in den sozialen Medien ständig Leute sehen, wie sie begeistert von ihren Jeans-Pullis schwärmen. So nach dem Motto: „Das ist der ultimative Look! Damit wird dein Leben so viel geiler!“ Und dann wären noch die Leute auf der Straße in ihren Jeans-Pullis… Eine Zeitlang wärst du vielleicht auch angetan. Aber irgendwann hättest du dich einfach sattgesehen. Irgendwann wären für dich diese Jeans-Pullis nur noch ein einseitiger und unpersönlicher Look. Oder?
So ähnlich ist das mit Selbstfürsorge. Man hört und liest immer wieder das Gleiche. Die gleichen Sichtweisen, die gleichen Tipps, die gleichen Ratschläge. Es kommt früher oder später zu einer Übersättigung.
Weißt du, was daran schade ist?
Es sind vor allem die Menschen genervt, für die Selbstfürsorge wirklich wichtig wäre! Das sind Menschen, die zahlreiche Belastungen erleben, unter seelischem Schmerz oder psychischen Problemen leiden. Menschen, die Schwierigkeiten haben aus ihrer Abwärtsspirale rauszufinden. Es sind die, die sich unverstanden, ausgesondert oder allein gelassen fühlen.
Ist Selbstfürsorge eine Strategie?
Was ist Selbstfürsorge wirklich? Ist das eine Art „Strategie“, mit der du für dein Wohl sorgst?
Ich bin sicher, ähnliche Tipps für Selbstfürsorge kennst du schon:
- Schreibe täglich in dein Tagebuch.
- Am besten du schreibst ein Dankbarkeitstagebuch.
- Tue täglich etwas, das dir Freude bereitet.
- Kreiere dir ein Morgenritual und starte bewusst in den Tag.
- Fange an zu meditieren. Oder mach Yoga.
Ist das schon Selbstfürsorge?
Ja, das ist es. Aber nur ein Bruchteil davon. Diese Beispiele beziehen sich auf konkrete Strategien. Sprich, wie du das Prinzip der Selbstfürsorge in deinem Alltag ins aktive Tun umsetzen kannst.
Eine Strategie ist ein im besten Fall bewusst ausgeführtes Verhalten, das zu einem bestimmten Zweck dient.
Selbstfürsorge ist aber nicht bloß eine Strategie. Und das aus einem einfachen Grund:
Es gibt viele Strategien, die nach Selbstfürsorge aussehen, aber in Wahrheit z.B. dazu dienen:
- Ein Suchtverhalten zu bedienen (Schnell eine Kippe rauchen, weil der innere Druck so groß wird.)
- Sich selbst nicht mehr zu spüren (Abends mal 3 Gläschen Wein genießen.)
- Selbstoptimierung zu betreiben (Aus Prinzip nur vegan ernähren, weil es als gesund gilt.)
- Wirklich wichtige Aktivitäten zu vermeiden (Lieber 1 Stunde lang meditieren, als mit dem Partner den Streit zu klären.)
- Gewohnheiten zu bedienen (Freitagnacht bis 4.00 Uhr morgens zocken, trotz Übermüdung.)
Es gibt Strategien, die einen selbstfürsorglichen Anteil haben. Aber genauso haben sie auch Anteile, die eher selbstsabotierend oder selbstschädigend sein können.
Wenn du in Zukunft Tipps für Selbstfürsorge anwendest, beachte dies:
>> Dabei handelt es sich meist um Strategien, mit denen du deine Selbstfürsorge fördern und üben kannst.
>> Achte darauf, aus welchen Motiven heraus du diese Strategien anwendest. Frage dich: „Ist das wirklich (noch) selbstfürsorglich? Ist das, was ich gerade wirklich brauche?“
Was ist Selbstfürsorge wirklich?
Selbstfürsorge ist etwas Fundamentales. Trotzdem gibt es keine einheitliche Definition. Deswegen kannst du im Prinzip Selbstfürsorge so auslegen, wie es dir am besten passt.
Ich lade dich ein, dir mein Verständnis von Selbstfürsorge anzuschauen. Überlege für dich, ob dir dieses Verständnis bei deiner Haltung zu diesem Thema weiterhilft. Vielleicht kann ich dazu beitragen, dass du weniger genervt oder verärgert bist, wenn du demnächst mehr über Selbstfürsorge von mir liest.
Aus der psychologischen Praxis heraus habe ich ein Verständnis für Selbstfürsorge entwickelt, das zwei Kernelemente beinhaltet:
Selbstfürsorge ist eine Haltung
Selbstfürsorge bedeutet, dass du dir als Individuum die Freiheit einräumst ein ganz normaler Mensch zu sein.
Du bist verletzlich und verwundbar. Du hast begrenzte Kapazitäten. Zu dir gehören Ecken und Kanten. Du hast Grenzen – emotional und körperlich.
Selbstfürsorge bedeutet, dass du dir erlaubst, all das zu sein. Dass du ohne Strenge, ohne Härte und ohne eine fremde Autorität auf dich blickst.
Selbstfürsorge ist deine Stärke, dir einzugestehen ein ganz normaler Mensch zu sein. Verwundbar, müde, überfordert, gereizt, bedürftig. Einfach menschlich.
Selbstfürsorge ist deine Haltung deiner Menschlichkeit gegenüber. Es ist eine Haltung mit Güte, Nachsicht, Realismus und Achtung.
Selbstfürsorge ist eine Fähigkeit
Selbstfürsorge ist eine dir angeborene, natürliche Fähigkeit.
Es ist deine lebensbejahende und lebenserhaltende Fähigkeit, die jede Tätigkeit einschließt, um dein Wohlbefinden und deine Gesundheit aufrecht zu erhalten, zu fördern, wiederherzustellen oder zu verbessern.
Selbstfürsorge ist deine Fähigkeit, deine Ressourcen achtsam und bewusst zu verteilen. Sodass du nicht Raubbau an deiner Lebenskraft betreibst. Sondern dafür sorgst, dass du ausreichend Lebensenergie, Lebensqualität und Vitalität für die Bewältigung deines jetzigen und zukünftigen Lebens hast.
Selbstfürsorge als Fähigkeit ist dein Indikator dafür, ob dein Leben, dein psychisches und körperliches Wohlbefinden und deine Ressourcen noch im Gleichgewicht sind.
Selbstfürsorge ist evolutionsbiologisch extrem wichtig. Ich gebe dir ein unendlich plattes und einfaches Beispiel:
Einer Katze siehst du ihre Selbstfürsorge regelrecht an. Solange sie für sich selbst sorgt, sorgt sie für den Erhalt ihrer Ressourcen und ihrer Lebensqualität. Das merkst du im Außen vor allem daran, wie gründlich sie ihr Fell pflegt. Aber was ist los mit einer Katze, die sich nicht mehr pflegt und nicht mehr für sich sorgt? Bei so einer Katze wirst du schnell feststellen, dass etwas nicht stimmt. Eine Katze, die ihre Fellpflege vernachlässigt, die nicht mehr richtig frisst, keinen Antrieb mehr hat oder nicht mehr spielen mag, ist höchstwahrscheinlich krank. Bei dieser Katze ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten. So ist es bei vielen anderen Tieren auch. Der Mensch ist dafür keine Ausnahme…
Du kannst nix damit anfangen? Hier ist der Grund!
So, jetzt denkst du vielleicht: „Aha, hat die ja toll erklärt. Aber ich kann nichts damit anfangen.“
Oder dir drängt sich der Gedanke auf: „Na herzlichen Glückwunsch. Dann hab ich wohl diese Fähigkeit nicht.“
Und ich kann dir auch sagen, woran das Problem liegt:
Du hast die Veranlagung zur Selbstfürsorge. Du kannst auch diese Haltung leben. ABER wäre da nicht unsere Sozialisierung gewesen.
Wie lernen wir unsere Fähigkeiten bewusst einzusetzen?
- Indem wir von klein auf beigebracht bekommen, dass wir diese Fähigkeiten besitzen. Es braucht jemanden, der dich darauf hinweist, dass du etwas kannst und der auch daran glaubst, dass du es kannst.
- Indem wir positive Vorbilder haben, die uns diese Fähigkeiten vorleben und in uns die Einsicht wecken, dass diese Fähigkeiten sinnvoll sind. Wir übernehmen (unbewusst) Muster unserer Vorbilder und der Menschen, denen wir eine gewisse Autorität über uns geben.
- Indem wir unsere Fähigkeiten auch anwenden, trainieren und fördern. Und uns dabei gut fühlen, etwas mit diesen Fähigkeiten zu bewirken und damit gewisse „Ergebnisse“ zu erzielen.
Mit Selbstfürsorge ist es eben nicht wie mit Fahrrad fahren. Es reicht nicht, dass einer dir Selbstfürsorge beibringt und dann kannst du es für den Rest deines Lebens.
Nun merkst du vielleicht, was bei deiner Selbstfürsorge nicht gut gelaufen ist. Vermutlich ähnlich wie bei mir. Mir hat niemand beigebracht, wie ich fürsorglich mit mir umgehe. Ich habe eher gelernt mich anzupassen und für andere Menschen zu sorgen. Ihre Erwartungen zu erfüllen und ihren Ansprüchen gerecht zu werden.
Selbstfürsorge war nie richtig Thema und wenn, dann eher mit einer moralischen Erziehungs-Keule wie: „Kämm dir die Haare. Du willst doch ein hübsches Mädchen sein oder?“ Oder: „Iss den Teller auf, sonst gibt es morgen schlechtes Wetter.“ Oder: „Wie du legst dich in deinem Alter mittags hin? Du bist zu jung für einen Mittagsschlaf!“ Tja… es hätte ja auch heißen können: „Schau mal, wie schön deine Haare sind. Komm, ich zeige dir, wie du sie kämmst. Es ist ganz toll, wenn du deine Haare so gut behandelst.“ Oder: „Warum möchtest du nicht aufessen? Bist du satt oder schmeckt es nicht?“ Oder „Möchtest du dich hinlegen? Ja, mach das. Dann bist du noch für den Rest des Tages fit.“ Naja oder so ähnlich. Ich denke, du weißt, was ich meine.
Was kannst du aus diesem Artikel lernen?
Bevor du diesen Artikel wieder verlässt, möchte ich dir einige Gedankenanstöße mitgeben:
- Aus diesem Artikel musst du nicht lernen, WIE du für dich selbstfürsorglich sein kannst.
- Du musst das auch nicht in einer Woche drauf haben. Vergiss bitte MÜSSEN, nur weil du überall liest oder hörst, wie sinnvoll es ist. Nimm bitte den Druck raus.
- Nimm einfach erstmal mit, dass du die Veranlagung zur Selbstfürsorge in dir trägst. Du bist kein hoffnungsloser Fall! Deine Fähigkeit zur Selbstfürsorge ist dir angeboren, weil sie lebensnotwendig ist. Nur weil du sie nicht spürst, heißt es nicht, dass du unfähig dazu bist. Es heißt, dass niemand bisher diese Fähigkeit in dir zu Tage gefördert hast.
- Wenn du bis jetzt eine eher negative Haltung zur Selbstfürsorge hattest (z.B.: „Das ist egoistisch.“), ist das verständlich. Daran gibt es nichts zu verurteilen. Denn deine Haltung ist wahrscheinlich ein Resultat deiner Sozialisierung. Deiner Erziehung. Deiner Prägung. Aber das heißt nicht, dass du für den Rest deines Lebens so denken musst. Erlaube dir, offen für eine neue Haltung zu werden. Vielleicht nicht jetzt gleich, aber vielleicht in naher Zukunft. Vielleicht kannst du bald eine etwas andere Sichtweise entwickeln. Und ich garantiere dir, das wird der erste Schritt sein, dass du deine Fähigkeit zur Selbstfürsorge an dir entdeckst.
Ich danke dir für deine Zeit und Aufmerksamkeit!
Tatjana
Du siehst hier Bilder von @Sabina Sturzu von Unsplash.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Ein richtig guter Artikel, er macht Mut weiter an seine Selbstfürsorge zu arbeiten, festzuhalten.
Ich für mich habe jetzt den Anspruch mehr aus mir und meiner Persönlichkeit herauszuholen um gelassener und energiegeladener durch MEIN Leben zu gehen
Danke für diesen Artikel, er trifft es genau. Selbstfürsorge ist aktuell ein grosses Thema für mich, da ich es erst lernen muss. Der Artikel hilft sehr.