Kannst du es fassen, wie schnell 2020 vorbeigeflogen ist? Aber so ist. In wenigen Wochen begrüßen wir 2021. Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht zum Jahresende ein Resümee zu ziehen und mir Gedanken über das kommende Jahr zu machen. Dieses Jahr befinde ich mich im Zwiespalt. Einerseits ist 2020 sehr viel passiert. Wir sind z.B. global von einem kleinen Virus überrollt worden. Und gefühlt ging das Jahr dafür drauf sich mit den Auswirkungen von Covid-19 zu beschäftigen. Andererseits kommt es mir so vor, als sei 2020 zu wenig passiert. Im Bereich der psychotherapeutischen Patientenversorgung hätte ich z.B. mehr Aktivität erwartet. Aus den Gesamteindrücken des Jahres habe ich meine Prognose für 2021 aufgestellt und möchte sie mit dir teilen. Du bist zum Diskutieren herzlich eingeladen!
Inhaltsverzeichnis
Zur Prognose für 2021
In meiner Prognose habe ich diese Schwerpunkte gesetzt:
- Zunahme psychischer Belastungen.
- Verstärkung systemrelevanter Probleme.
- Neues Studium der Psychotherapie – ein Experimentierfeld.
Ich denke, das sind die Themen, die auch 2021 große Präsenz beibehalten werden. Es gibt aber noch viele weitere wichtige Themen. Wir könnten Bücher damit füllen!
Dazu muss ich sagen: Meine Prognose beruht nicht auf statistischen Erhebungen. Ich erlaube mir eine Prognose anhand meiner Beobachtungen, Eindrücke und meiner Meinung aufzustellen. Es kann gut sein, dass andere Kollegen oder Betroffene andere Vermutungen über Psychotherapie in 2021 haben werden. Dennoch bin ich mir sicher, dass du hier einige Anregungen zum Weiterdenken finden wirst.
Zunahme psychischer Belastungen
Eine Zunahme von psychischen Belastungen (wie Depression oder Burn Out) wird schon seit Jahren in der Fachwelt diskutiert.
Doch lass uns nur 2020 für sich betrachte. 2020 war in vielerlei Hinsicht ein Ausnahmejahr. Privat wie beruflich für Millionen Menschen.
Beruflich waren z.B. folgende Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes unheimlich gefordert: Pflegekräfte, Polizisten, Feuerwehrleute, Ärzte und Lehrer. Aber auch Beschäftigte im Lebensmitteleinzelhandel, in der Gastronomie und Selbstständige hatten es nicht leicht.
Privat hat es 2020 jeden auf eigene Art und Weise hart getroffen. Ich denke an alleinerziehende Eltern, die neben Homeoffice die schulische Betreuung ihrer Kinder regeln mussten. Ich denke an Partnerschaften, die auf die Probe gestellt wurden. Genauso denke ich an persönliche moralische und ethische Überzeugungen, die einer Bewährungsprobe ausgesetzt wurden. Zudem kamen Existenzängste, gesundheitliche Sorgen, Zukunftsängste und soziale Abgeschiedenheit.
2020 wurde von jedem Einzelnen wahnsinnig viel abverlangt. Dennoch habe ich nicht den Eindruck, dass unsere Wertschätzung, Anerkennung oder zumindest unsere Achtung vor- und füreinander entsprechend gewachsen sind.
Prognose für 2021:
Demnächst soll ein Impfstoff gegen Covid-19 auf den Markt herausgebracht werden. Impfpläne werden ausgearbeitet. Impfzentren werden eingerichtet. Dennoch 2021 ein forderndes Jahr bleiben. Die psychische Belastung wird nicht abfallen. Zeit wird keine „Wunden“ heilen.
Meine Prognose lautet, dass der Grad der psychischen Belastung weiterhin hoch bleiben, wenn nicht noch weiter steigen wird. Wenn du einen Grund dafür haben willst, sage ich nur: Stichwort Langzeitfolgen.
Folgende Problemverstärker für eine wachsende psychische Belastung sehe ich:
- Mangel an gegenseitiger Anerkennung, Wertschätzung und Dankbarkeit und gegenseitigem Wohlwollen.
- Schwachpunkte in der finanziellen Entlastung und Entschädigung.
- Mangel an Bereitstellung angemessener Erholungsphasen.
- Mangel an gesundheitsförderlichen Maßnahmen.
- Persönliche gering ausgeprägte Kompetenzen wie Emotionsregulation, Selbstfürsorge, Abgrenzungsfähigkeit, soziale Kompetenzen und Problemlösekompetenzen.
Meine Befürchtung: Psyche wird auch 2021 weitestgehend Privatsache bleiben.
Sobald Cafés, Restaurants, Kinos und Diskotheken wieder aufmachen, wird die allgemeine Erwartung lauten: „Jetzt ist doch alles wieder wie beim alten. Also, wo ist das Problem? Stellt euch nicht so an.“
Die psychotherapeutische Versorgung ist auf eine Zunahme an psychischer Belastung nicht vorbereitet. Der Bedarf kann jetzt schon (unabhängig von Corona-Folgen) nicht abgedeckt werden. Und das wird auch so bleiben.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Burn Out unsere nächste Epidemie sein wird. Burn Out und Depressionen werden uns noch härter treffen, als bisher. Ich fürchte der Ausdruck „erschöpfte Gesellschaft“ wird sich nicht nur in 2021 fest etablieren können, sondern uns noch über das Jahr 2021 begleiten.
Lesenswerte Artikel sind auch:
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6 psychologische Tipps für guten Umgang mit Coronavirus, Panik (-mache) und Unsicherheit
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Verstärkung systemrelevanter Probleme
Die Auswirkungen von Corona sorgen dafür, dass systemrelevante Probleme aufgedeckt (oder verstärkt) werden ko(ö)nnten. Dazu gehören:
> Erschwerter Zugang zur (ambulanten) Psychotherapie
Die Einführung der psychotherapeutischen Sprechstunde war ein Versuch die Versorgungslage zu verbessern. Aber es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz liegen dennoch bei 3 bis 6 Monaten. Wobei konkrete Zahlen dazu einfach fehlen. Merkst du es gerade selbst, weil du keinen Platz für eine Psychotherapie findest? Wie du durch diese schwere Zeit kommst und dennoch gut für dich sorgst, zeige ich dir in meinem E-Book „SOS-Guide: Dein praktischer Leitfaden für die Überbrückung der Wartezeit auf eine ambulante Psychotherapie.“
> Geringe Patientenorientierung
Das Prinzip im Gesundheitssystem lautet: „Wenn es dir schlecht geht, musst du dich eben drum kümmern, dass du in Therapie kommst.“ Wie das aussieht, ist im Grunde jedem selbst überlassen. Wie es um Ressourcen der Betroffenen steht, scheint zweitrangig zu sein. Dass wiederholte Anrufe in Praxen, mehrmalige Besuche der Sprechstunde, widersprüchliche Aussagen der Krankenkassen und Vertröstungen durch den Terminvergabeservice verunsichern oder sogar ermüden, bleibt unberücksichtigt.
> Vernachlässigung von „Randgruppen“
Damit meine ich Menschen mit komplexen psychischen oder psychosomatischen Störungsbildern. Dazu gehören komplexe Traumafolgestörungen, Persönlichkeitsstörungen oder komplizierte Komorbiditäten. Betroffenen gehen im System unter, weil es nicht genug Spezialisten gibt, um eine entsprechende Therapie anzubieten. Erschreckend fand ich dazu die Geschichte einer Leserin, die mit schwerwiegendem psychosomatischem Krankheitsbild seit über 5 Jahren keinen Therapieplatz findet. Damit bleibt sie langfristig auf dem Stempel der Ausgestoßenen sitzen. Ihr fehlt nicht nur der Zugang zur Therapie, sondern auch eine angemessene Rehabilitierung ins gesellschaftliche Leben.
> Privilegierung in der Psychotherapie
Ob „Privilegierung“ das passende Wort ist, musst du selbst entscheiden. Ich meine damit den Umstand, dass von Betroffenen vorausgesetzt wird sich eine Therapie selbst zu leisten. Wenn z.B. ein Zugang als gesetzlich Versicherter nicht möglich ist. „Dann machen Sie private Psychotherapie. Oder gehen Sie zum Heilpraktiker.“ An sich eine gute Option zur Überbrückung der Wartezeit auf einen von der Krankenkasse bezahlten Therapieplatz. Das Problem ist nur, dass dadurch Psychotherapie zum Privileg derer wird, die sich die privaten Kosten auch leisten können.
Lesenswert ist dazu:
Mein E-Book, SOS-Guide. Mein Leitfaden für die Überbrückung der Wartezeit
Warum Patienten es nicht leicht haben – die (unausgesprochenen) Erwartungen der Therapeuten
Zufriedenheit in der Psychotherapie – Stellungnahme zur Aussagekraft des BARMER-Arztreport 2020
Prognose für 2021:
Die Anforderungen an unser Gesundheitssystem werden steigen. Vor allem an eine patientenorientierte psychotherapeutische Versorgung.
Einer meiner Follower auf Twitter hat es perfekt formuliert: Das System ist zu träge, um auf die Anforderungen flexibel zu reagieren.
Ich glaube, unser Gesundheitssystem wird versuchen mit schnell umsetzbaren Lösungen die von mir genannten Probleme zu ersticken. Den wahrscheinlichsten Lösungsansatz sehe ich in der Digitalisierung der Psychotherapie.
Online Therapie hat enorme Vorteile: Sie ist ortsunabhängig, schnell zugängig, flexibel gestaltbar und anonym.
Ich vermute stark, dass sich große soziale Start-ups etablieren werden, die Psychotherapie oder ähnliche Hilfsangebote anbieten. Ein Beispiel dafür ist HelloBetter.
Ich sehe es auch kommen, dass immer mehr niedergelassene Psychotherapeuten mit dem Trend mitgehen und auf online Therapie umstellen werden.
Krankenkassen werden zunehmend die Kosten für eine online Therapie übernehmen, mit eigenen online Programmen oder Kooperationspartnern werben.
Es würde mich nicht überraschen, wenn wir 2021 große Werbeplakate entdecken, auf denen mit der glorreichen Zukunft unserer gesunden Bevölkerung geworben wird, weil online Therapie so wirkungsvoll und einfach zugängig sei.
Langfristig ist online Therapie die Zukunft. Theoretisch. Aber ich glaube auch das ist nur ein Tropfen auf einem heißen Stein.
Auch 2021 wird man mit dem Leid anderer viel Geld machen können…
Weitere Artikel:
Acht Vorteile der online Therapie auf einen Blick
Neues Studium der Psychotherapie – ein Experimentierfeld
Wenn du bisher psychologischer Psychotherapeut werden wolltest, musstest du erstmal Psychologie (auf Bachelor und Master) studieren und anschließend eine Ausbildung absolvieren. Du warst mindestens 8 Jahre lang im „Ausbildungsstatus“, um den Titel zu erwerben.
Dieses System wurde hart kritisiert. Vor allem, weil angehende Therapeuten im Gesundheitssystem unter dem Titel „PiA“ unwürdig ausgebeutet wurden.
Ich habe früher gerne gescherzt, dass ich als „PiA“ in vollwertiger therapeutischer Berufstätigkeit zum gleichen Lohn auch entspannt Regale im Lidl einräumen könnte. Ohne diese krasse Last und Verantwortung auf meinen Schultern.
Herbst 2020 wurde dieser Ausbildungsweg reformiert.
Wenn du ab dem 1.09.2020 psychologischer Psychotherapeut werden willst, kannst du gleich auf Psychotherapie studieren. Nach 5 Jahren (3 Jahre Bachelor und 2 Jahre Master) schließt du dein Studium mit einer staatlichen psychotherapeutischen Prüfung ab und erhältst deine Approbation zum psychologischen Psychotherapeuten.
Eine anschließende Weiterbildung soll es aber trotzdem geben…
Mehr dazu kannst du hier oder hier nachlesen. Das Ganze klingt erstmal nach einer längst überfälligen Reform.
Prognose für 2021:
Es werden Inhalte des alten Studienganges der Psychologie mit Ausbildungsinhalten der Psychotherapie vereint. Aber wie genau wird das aussehen? Wie viel wird noch von der Wissenschaft Psychologie übrig bleiben?
Wie werden die Unis diese Reform umsetzen? Wird es Einheitlichkeit in der Studienordnung an den Unis geben? Oder muss jede Uni für sich zusehen, wie sie den neuen Studiengang von Theorie in Praxis umsetzt?
Ab 2021 müssen Studierende bereits von Anfang an wissen, ob sie den therapeutischen Beruf anstreben wollen. Wer bereits Psychologie im Master studiert oder in der Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten steckt, hat ab Herbst 2020 noch 12 Jahre Zeit eine Approbation zu bekommen. Danach ist der Zug abgefahren. Wie viel ist dann ein Studium der Psychologie noch wert? Ohne Witz… ich frage mich, wie viel dann noch mein Diplom wert ist.
Meine Prognose lautet, dass das neue Studienfach ein Experiment an unserem Bildungssystem ist. JAAAA… natürlich gibt es Millionen Fürwörter für die Reform. Und es ist auch gut, dass es die Reform gab. Aber meine Erwartung ist, dass dieser neue Studiengang lange Zeit heterogen bleibt. Jede Uni wird erstmal selbst zusehen, welche Studieninhalte tatsächlich auf welche Weise vermittelt werden. Damit sind qualitative Unterschiede in der Ausbildung zum Therapeuten eine logische Konsequenz.
Und ob durch die Reform und den damit festgelegten Mindestlohn von 1000 Euro wirklich die finanzielle Situation angehender Psychotherapeuten verbessert wird? Ich bezweifle es.
Ich habe viele Fragezeichen im Kopf, was diese Reform angeht. Ich bin unschlüssig, ob sich unser Gesundheitssystem damit einen Gefallen getan hat. Ob das wirklich der goldene Weg ist, um psychologische Psychotherapeuten auszubilden. Schimpf mich Pessimistin, aber ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.
Zum Schluss:
Diesen Artikel zu schreiben hat mich ehrlich frustriert. Nicht, weil ich pessimistischerweise schwarz für 2021 sehe. Ich freue mich auf das kommende Jahr! Aber ich erkenne Probleme ohne wirklich sinnvolle Lösungen. Und ich werde meine Bedenken nicht los.
Ich glaube es wird weiterhin so bleiben, dass wir versuchen Brände einzudämmen, anstelle sie an der Quelle auszulöschen.
Was siehst du 2021 auf uns zukommen?
Wie stehst du dem kommenden Jahr gegenüber?
Und welche meiner Gedanken teilst du oder siehst es ganz anders?
Zum Schluss kann ich dir nur ans Herz legen dich im Gesundheitssystem weiter zu emanzipieren.
Mehr denn je wird es wichtig sein, dass du für deine (Patienten-)Rechte einstehst, dich für dein Wohl einsetzt, dich nicht unterkriegen und erst recht nicht abspeisen lässt!
Dafür musst du nicht selbst Psychotherapie studieren, aber dich eventuell mit den richtigen Menschen zusammentun, dich informieren und aufklären lassen. Dafür wird mein Blog unbedingt bestehen bleiben! Und weiter noch: Mein Wunsch ist es meine Mitgliedschaften weiter auszubauen, um Menschen wie dich und andere Hilfesuchende im Gesundheitssystem besser zu unterstützen.
Ich empfehle dir mein E-Book, das du dir noch heute sichern kannst: SOS-Guide. Mein Leitfaden für die Überbrückung der Wartezeit
Ich danke dir für deine Zeit und Aufmerksamkeit!
Tatjana
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